Wofuer es sich zu sterben lohnt
sei geklärt. Ich rufe ihn an und bitte ihn her, damit wir eine richtige Vernehmung mit ihm durchführen können.«
Monika wählte die Nummer der Schulpsychologin, die sich jetzt ebenso verängstigt anhörte wie bei ihrem Ge spräch in der Schule. Damals hatte Monika Louise für au ßergewöhnlich schreckhaft gehalten. Eine plausiblere Er klärung war vielleicht, dass Louise Grund hatte, so verängs tigt zu sein, wie sie klang.
Die Gedanken lösten einander rasch ab, in schneller Fol ge. Plötzlich hatten sie ihr normales hohes Tempo erreicht. Wie lange hatte Monika schon nicht mehr so funktioniert? Daran konnte sie sich nicht erinnern. Aber jetzt hatte ihre Sperre sich endlich gelöst. Noch nie hatte sie in einem of fenen Wagen, einem Tuch um die Haare und einer gro ßen Sonnenbrille die Geschwindigkeitsbegrenzungen über schritten. Nie hatte sie auf Skiern einen Abfahrtslauf hinge legt. Aber so ungefähr musste sich das anfühlen. Sie dachte als Polizistin, sie hörte und horchte als Polizistin, sie begriff als Polizistin, und es ging schnell!
Sie merkte nichts von ihrer fast schlaflosen Nacht. End lich lief die Ermittlung heiß, gab Energie ab. Die Ereignis se waren in Bewegung. Sie wusste das aus Erfahrung, un gefähr so wie Krankenhauspersonal wissen kann, dass ein Patient sterben wird, ohne genau sagen zu können, wieso sie das wissen.
Kaj arbeitete gerade in der Nähe. Vorbeizukommen sei kein Problem, in einer halben Stunde vielleicht?
Während Monika wartete, fing sie an, die Papiere zu le sen, die Bosse hingeworfen hatte, ehe er aus dem Raum ge stürzt war. Dabei handelte es sich um das überraschende Obduktionsprotokoll und um Juris Krankenbericht, den die Gerichtsmedizin kopiert hatte.
Es war eine seltsame Lektüre. Sie hatten zwei Stichkanäle gefunden, aber nur eine Einstichstelle in Juris Körper. Zu erst hatte das Messer seine Haut durchschnitten. Dann hat te es das dünne Subkutanfett passiert, einen dicken Mus kel angekratzt und war mit der Spitze im Schulterblatt ste cken geblieben. Das war der erste Weg des Messers durch Juris Körper.
Dann war es offenbar vom Knochen gelöst und aus dem Muskel, der ziemlich geblutet hatte, herausgezogen wor den. Danach hatte es einen neuen, viel gefährlicheren Weg genommen. Es war am Rand des Schulterblattes vorbei geglitten, hatte sich zwischen zwei Rippen gedrängt, hat te die kleinen Muskeln zerschnitten, die eine Rippe mit der anderen verbanden. Es hatte zuerst den Lungenbeutel durchstochen, dann den Lungenflügel und endlich einen tiefen Einschnitt in Juris großes, durchtrainiertes Herz vor genommen.
Eine so seltsame Stichverletzung hatte Monika noch nie gesehen.
Der erste Teil war nicht schwer zu verstehen. Matildas Va ter Robert hatte gestanden. Er hatte Juri das Messer in den Rücken gerammt. Danach war er niedergeschlagen worden. Später war er dicht neben Juris Leichnam zu sich gekom men.
Amnesie... dieses Wort tauchte wie von selbst in ihrem Gehirn auf. Gedächtnisverlust.
Verflixt. Vermutlich war es wirklich so einfach.
Es kam nicht so selten vor, dass jemand nach einem Schlag - einem Schädeltrauma, wie es im Krankenhausjar gon hieß - einen Gedächtnisverlust erlitt. Monika war vie len Menschen begegnet, die sich nicht an den Verkehrsun fall erinnern konnten, bei dem ihr Wagen zerquetscht wor den war, oder daran, was passiert war, ehe sie ohne Brief tasche, aber mit einer schmerzenden Beule am Hinterkopf in einem Torweg aufgewacht waren.
Bosse hätte sich nicht so aufzuregen brauchen, bestimmt hatte er trotzdem seinen Täter.
Monika versuchte, sich diese Szene vorzustellen.
Zuerst bohrt Matildas Vater Juri das Messer in den Rücken.
Dann schlägt Juri auf den Vater ein, verliert das Gleichge wicht, fällt auf den Bauch. Der Vater ist noch immer außer sich vor Wut, er zieht das Messer heraus und sticht noch einmal zu. Diesmal trifft er zufällig die schmale Spalte zwi schen den Knochen, und Juri stirbt. Danach verliert der Vater das Bewusstsein. Als er wieder zu sich kommt, kann er sich an den zweiten Stich nicht erinnern. Er weiß auch nicht mehr, dass er seine Fingerabdrücke abgewischt hat.
Nein, das klang nicht überzeugend.
Während sie versuchte, sich eine bessere Erklärung zu überlegen, rief die Rezeption an, Kaj wartete unten. Bosse war noch immer nicht wieder da, deshalb musste sie das Gespräch selbst führen. Sie gingen in Monikas kleines Ar beitszimmer.
Monikas erster Eindruck von Kaj war Kraft. Kraft in ei nem
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