Wofuer es sich zu sterben lohnt
her gewandert, bis Theo nicht mehr gekonnt hatte. Monika hatte die gan ze Zeit darauf gewartet, dass ein kleines Einsatzkomman do angestürzt käme oder dass einer der bewaffneten Sicher heitsleute nach einem Telefonanruf losstürmte und sie und Theo festnähme.
Denn sie verhalf jemandem, für den ein Haftbefehl be stand, zur Flucht. Anders ließ sich das einfach nicht dar stellen. Das war überall verboten, und sie konnte nicht die Unwissende spielen, wenn sie erwischt würden.
Aber alles ging gut. Theo folgte ihr stumm und willen los, als spiele nichts mehr eine Rolle. Seine Lunge befand sich sicher auf dem Weg der Besserung, aber wie mochte es mit seinem Herzen aussehen, fragte sie sich. Was, wenn sie nun doch die Verantwortung für eine Verletzung bei diesem jungen Menschen trug, die nie mehr richtig aus heilen würde?
Nach ungefähr einer halben Stunde in der Luft befreite Theo sie aus dieser Unruhe, indem er tonlos fragte:
»Was geschieht jetzt?«
Monika war so erleichtert, dass sie ihn fast umarmt hätte.
»Ich weiß nicht so recht. Wir müssen zuerst mit deiner Mutter sprechen.«
Dann fügte sie vorsichtig hinzu:
»Theo, hast du dir jemals überlegt, dass deine Mutter viel leicht glaubt, dass du Salomon erschossen hast?«
Theo schaute auf.
»Ich?«
»Tigist ist von deiner Unschuld überzeugt. Du glaubst, dass deine Mutter ihn erschossen hat. Aber es könn te auch jemand anders gewesen sein, jemand, der hinter euch stand, jemand, der danach zurückgewichen ist, nach hinten verschwand. Jemand, der nie gefunden worden ist.«
Theo richtete sich im Flugzeugsessel gerade auf. Monika hoffte, er werde jetzt nicht sofort sagen, ja, wo Sie das schon sagen, da habe tatsächlich hinter ihm eine verdächtige Per son gestanden. Aber das sagte er nicht.
»Ich weiß nicht mehr, woran ich mich erinnere und was ich … geträumt habe. Ich habe so viel geträumt, ich hatte solche Angst...«
Er sah sie an, als werde vor seinen Augen die Welt neu gestaltet, und fügte hinzu:
»Und wenn jemand anders Salomon erschossen hat, dann können wir doch wieder nach Hause fahren. Ich kann Abitur machen. Meine Mutter kann ihr Zentrum im Kran kenhaus eröffnen.«
»Das geht nur, wenn wir Beweise vorlegen können. Denk nach, Theo, denk nach! Wir haben das Video gesehen, wir wissen, dass jemand hinter dir und Mariam gestanden hat. Du hättest eine Hand ausstrecken und ihn berühren kön nen. Kannst du dich an irgendetwas erinnern? Seine Klei dung, sein Gesicht, egal was!«
»Ich habe mich nicht umgesehen - ich hatte nur Augen für Salomon!«
Er sank in sich zusammen und schlug die Hände vors Gesicht.
»Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht …«
»Es kommt nicht nur auf dich an, Theo. Wir haben noch andere Fäden, an denen wir ziehen können«, log Monika so halbherzig, dass es ihrer Stimme anzuhören war. »Aber ab und zu kann eine kleine Erinnerung erst später auftauchen. Und wenn das passiert, dann will ich es wissen. Sofort.«
Sie glaubte, seine Gedanken lesen zu können. Er hatte sich mehr aufgeladen, als er tragen konnte, und jetzt war er davon überzeugt, dass es doch noch zu wenig gewesen war.
Monika beobachtete so was nicht zum ersten Mal. Sie hatte es bei dem Zehnjährigen gesehen, dessen betrunkene Mutter von der Polizei in eine Entzugsklinik gebracht wor den war, obwohl das Kind alles getan hatte, um zu Hause zu helfen. Bei der Sechzehnjährigen, deren kleine Schwes ter sich erhängt hatte, obwohl die große Schwester alles auf gegeben hatte, um ihr zu helfen.
Sie fragte nach seinem ersten Flug nach Stockholm, um ihn auf andere Gedanken zu bringen. Und er fing an zu er zählen, erst langsam und zögernd, dann immer schneller. Er legte den Kopf in den Nacken, kniff die Augen zu, erzähl te aber weiter über alles, was geschehen war. Er sprach über sich und sein Leben, über Stockholm und Addis Abeba, über den Abend in der Tagesstätte und die Miss Wahl im Hilton. Wörter, magische Wörter, die läutern und heilen, sprudelten nur so aus ihm heraus. Nach und nach wurde er dann langsamer, er war kurz vor dem Einschlafen, aber einzelne Wörter tropften noch immer heraus, immer un deutlicher.
Sie fragte sich, warum schlafende Menschen jünger aus sehen und wie der attraktive Hauswirtschaftslehrer im Schlaf wohl aussehen mochte. Nein, daran wollte sie jetzt nicht denken. Sie wollte ihre Gedanken organisieren, das überdenken, was Theo erzählt hatte, und was sie tun soll te, wenn sie ihr Ziel erreicht
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