Wofuer es sich zu sterben lohnt
Donnerstag
In einem der Reihenhäuser oberhalb des Wäldchens, in dem Juri gefunden worden war, saß Greta, Helenas Großmutter, an ihrem Küchentisch. Noch immer hielt sie das Telefon in der Hand, als ob das etwas ändern würde. Als ob der Anruf der Polizei ungeschehen gemacht werden könnte.
Als Helena kam, hatte Greta noch immer nicht mit Ko chen angefangen. Es fiel ihr immer schwerer, je mehr Zeit verging, und das überraschte sie. Am Tag danach, am Sams tag, hatte sie sich so stark, so leicht, so unüberwindlich ge fühlt. Sie war die Frau, die eine zweite Chance erhalten und sie genutzt hatte. Sie hatte Mitch nicht stoppen können. Den langen, mageren Junkie Mitch, der ihre Cassie mit der Hepatitis infiziert hatte, die sie das Leben gekostet hatte. Bei Juri hatte sie ihre Sache besser gemacht. Das Schicksal schien ihre Begegnung vorbereitet zu haben, als wolle es für das letzte Mal um Nachsicht bitten.
Als erlaube das Schicksal nicht, dass ein Mensch zweimal so hart getroffen werde. Sie hatte Cassie verloren, die mit fünfzehn Jahren ein schlaksiges, frisch gereiftes Blumen kind mit einer wilden braunen Mähne und indischen Klei dern mit kleinen Spiegeln und Stickereien gewesen war. Die mit fünfzehn so sehr in Mitch verliebt war, dass sie fast ge glüht hatte. Und Mitch mit seinen langen Beinen in engen Jeans, mit seinem offenen Gesicht und seinen Besorgnis erregenden Gewohnheiten hatte sie umgebracht, so sicher, als hätte er eine Pistole hervorgezogen und abgedrückt.
Danach hatten die Gedanken ihr keine Ruhe gelassen. Warum hatte sie nicht nein gesagt? Weil Cassie nicht auf sie gehört hätte. Weil sie selbst auch nicht auf die Idee ge kommen war, dass er krank sein könnte. Sie hatte mit ihm gegessen, er war einige Male mit ihnen aufs Land gefah ren. Sie hatte gedacht, es sei doch schön, wenn bei der ers ten Beziehung Liebe im Spiel sei, und es würde schon bald vorbei sein.
Danach träumte sie von allem, was sie hätte tun kön nen. Mit Cassie in ein anderes Land gehen, weit weg. Ein ernstes Wort mit Mitch sprechen, Auskunft über seinen ge sundheitlichen Zustand verlangen, ihn über Schutz vor An steckung aufklären. Oder ihn ganz einfach auslöschen. Ihn erschießen, ihn erwürgen, ihn in hohem Tempo mit dem Auto überfahren.
Aus diesen Träumen schreckte sie erhitzt und schweiß nass zwischen verworrenen Laken auf, bedrückt von einer Schuld, die ihr die Luft aus der Lunge presste und das At men fast unmöglich machte.
Denn im wirklichen Leben hatte sie nichts unternom men. Sie hatte Cassie von dem großen Durchbruch reden lassen, der bevorstand. Mitch würde so reich sein, dass er ihr alles geben könnte, was sie sich wünschte, so reich, dass sie ein großes Haus mit Kindern haben könnte. Sie hatte die beiden loswandern lassen, eng umschlungen, ein rei zendes Paar. Sie hatte Cassie zuerst schwanger und dann krank werden lassen. Cassie war gestorben, als Helena knapp zwei Jahre alt gewesen war, Mitch ungefähr ein Jahr darauf.
Diesmal, bei Helena, hatte sie diesen Fehler nicht ge macht.
Jetzt saß sie in ihrer Küche und begriff nicht, warum sie es nicht über sich brachte zu kochen, warum sie nicht schla fen konnte. Begriff die Unruhe nicht, die Panik.
Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie bereuen und dass sie Schuldgefühle oder Trauer empfinden würde. Nichts konnte wichtiger sein als Helenas Leben. Sie hatte nur das getan, was getan werden musste.
Dennoch saß sie bewegungslos an ihrem Küchentisch. Sie hatte sich am Montag seltsam zittrig gefühlt, zu zittrig, um arbeiten zu können, und seither war sie zu Hause ge blieben. Um sich zu beruhigen, um sich zu sammeln, aber alles wurde nur immer noch schlimmer.
Und jetzt war Helena zu Hause. Sie betrat eine Küche, die inzwischen schon seltsam roch.
»Helena, du weißt, dass ich versucht habe, mich um Cas sie zu kümmern. Das ist mir nicht gelungen.«
»Mmm.«
»Ich habe auch nach besten Kräften versucht, mich um dich zu kümmern.«
»Bei mir ist dir das richtig gut gelungen … dein Kopf sieht so seltsam aus, der hängt irgendwie …«
Helenas Großmutter setzte sich mühsam gerade.
»Weißt du, Helena, es ist schwer, viel zu schwer, die Ver antwortung für einen anderen Menschen zu tragen. Es geht nicht, egal, was man auch tut …«
Helena verhielt sich wie immer, wenn sie nicht so recht wusste, was ihre Großmutter sagen wollte. Sie legte ihr die Arme um den Hals, küsste sie auf die Wange und sagte:
»Ich liebe
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