Wofuer es sich zu sterben lohnt
hieß, presste gegen ihr In neres - es drückte ihre Lunge zusammen, und sie bekam kaum noch Luft, es umklammerte ihr Herz. Es trennte sie von Theo, der so dicht bei ihr saß, der aber genauso gut in einem anderen Auto hätte sitzen können, in einer anderen Stadt, auf einem anderen Planeten. In dem Schweigen, das Salomon hieß, gab es nur eisige Einsamkeit.
Als sie zu Hause ankamen, spürte sie ihren Körper fast nicht mehr. Arme und Beine schienen verdorrt zu sein, aber seltsamerweise funktionierten sie wie immer. Sie konnte das Auto verlassen, sie konnte auf das Haus zugehen.
Theo folgte ihr, sie hörte seine Schritte und ihre eige nen. Die Schritte brachen die Macht des Schweigens, und sie konnte sagen:
»Alles wird gut, mein Junge. Alles wird gut.«
Es musste gut werden. Und wie immer musste sie dafür sorgen, dass eben auch das hier gut wurde.
Noch vor wenigen Stunden hatte sie geglaubt, ein schreckliches Problem zu haben, aber dieses Problem ver blasste, verglichen mit der Herausforderung, der sie jetzt gegenüberstand.
Sie fragte sich, ob Theo wusste, wie ein Gefängnis aus sah. Vermutlich nicht. Aber sie wusste es, im Rahmen ihrer Ausbildung war sie dort gewesen.
Sie fragte sich, ob Theo wusste, dass ein Mörder schlimms tenfalls zum Tode verurteilt werden kann.
Sie musste ebenso klaren Kopf behalten wie damals in dem blutverschmierten Operationssaal.
Am nächsten Morgen wollte die Polizistin, die sich wie eine Ballerina bewegte, zu ihnen nach Hause kommen, um ihre Aussagen zu vervollständigen. Und dann würde sie sicher die Fragen stellen, zu denen bisher die Zeit gefehlt hat te. In welcher Beziehung stand Mariam zu Salomon? Sie würde mit Ierusalem und dem Wächter sprechen, und da nach würde sie dann Mariam und Theo einem richtigen Verhör unterziehen. Und der schöne, nervöse Theo, der nachts noch immer nicht ruhig schlief und dessen Körper fast die ganze Zeit angespannt war, würde sich nicht weh ren können.
Dieses eine Mal war Mariams Priorität eindeutig. Theo, nur Theo war jetzt wichtig. Nur er.
Sie war an allem schuld, was in seinem Leben schwierig war - aber jetzt würde sie ihre Verantwortung auf sich neh men. Und das musste schnell gehen.
Schweigend gingen sie ins Haus.
Sie lief hin und her, überlegte, fand nur eine Lösung, nur eine teure, aber mögliche Lösung.
So mussten sie es machen.
Sie rief Halleluja an, ihre Lieblingsschwester.
Halleluja sagte natürlich ja, selbstverständlich könnten Mariam und Theo die schwedischen Pässe leihen. Sie wer de sie heraussuchen, ob es eile?
Ja, ja, es eilte.
Halleluja war zwei Jahre älter als Mariam. Sie hatte vier Jahre wachsender Enttäuschung in Schweden verbracht. Danach hatte sie den schwedischen Entwicklungshelfer ver lassen, der ihr so viel mehr versprochen hatte, als er hal ten konnte, und war nach Addis Abeba zurückgekehrt. Ihr Sohn war zwei Jahre jünger als Theo, sah ihm aber so ähn lich, dass auf dem Passfoto niemand den Unterschied ent decken würde. Es würde klappen.
Es musste klappen.
Mariam löschte einiges auf der Festplatte ihres Compu ters, suchte ihre Geldreserven zusammen, packte ein wenig Unterwäsche in eine kleine Tasche.
Sie wollte nicht darüber nachdenken, wie lange sie fort bleiben würde.
Sie saß auf ihrem Bett, ihrem schönen Bett, und rief noch einmal Halleluja an. Sie bat sie, mit den Pässen zu ihrem gemeinsamen Lieblingscafé zu kommen. Sie würden sich auf der Straße treffen. Halleluja würde ihr die Pässe schnell geben, unmerklich. Und sie würde niemandem etwas da von erzählen.
Zehn Minuten darauf spazierten Mariam und Theo vom Grundstück, als ob sie in kurzer Zeit zurückkehren woll ten. Mariam blickte zu den Bäumen auf, die die Dunkel heit anzuziehen schienen, und sie hatte schon jetzt Sehn sucht nach ihnen.
Plötzlich nahm Theo ihre Hand. Das hatte er zuletzt als kleines Kind getan. Sie packte seine Hand, als herrschte jetzt die größte Gefahr, dass er in der Menschenmenge ver loren gehen könnte. Dann liefen sie weiter, Hand in Hand, unauffällig im Gewühl. Als Halleluja mit raschen, nervösen Schritten auf sie zukam, umarmten sie einander nur ganz kurz, während der steife Umschlag mit dem unbezahlba ren Inhalt überreicht wurde.
Denn denen, die den richtigen Pass und Geld haben, steht die Welt offen.
»Jetzt teilen wir uns auf, Theo. Wir fahren mit getrennten Taxis zum Flughafen.«
Mariam buchte für Theo einen Flug nach Frankfurt am Main und für sich selbst
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