Wofuer es sich zu sterben lohnt
meinem Leben passiert. Es ist nicht deine Schuld, dass wir allerlei gestörte Schüler haben. Und daran kannst nicht einmal du etwas ändern.«
Kaj erwiderte fast unhörbar:
»Aber ich will Verantwortung für dich übernehmen. Ich nehme diese Verantwortung sehr gern auf mich. Ich liebe dich, und es gibt nichts, was ich nicht für dich tun würde.«
Kindertagesstätte Walderdbeere
Die Kindertagesstätte Walderdbeere war ein kleines einstö ckiges Haus, von einem arg ramponierten niedrigen Holz zaun umgeben.
Greta zögerte einen Moment, ehe sie hineinging. Was die Kinder anging, so hätte der kleine Zaun auch eine mit Stacheldraht gekrönte Betonmauer sein können. Die Vor stellung, wie lächerlich leicht es war, junge Menschen ein zusperren, steigerte ihren Widerwillen noch.
Ihre Stimmung wurde auch nicht besser davon, dass sie den beginnenden Frühling noch nie gemocht hatte. Die Bäume schienen blinde, geschwollene grüne Fingerspitzen zu haben, die nach oben strebten und einfach bedrohlich aussahen. Die Erde stank, und einige kleine frühe Blumen dufteten süß. Die waren wie alte Frauen, dachte sie, die ver suchen, den unangenehmen Körpergeruch unter schwerem Parfüm zu verbergen.
Hinter dem Zaun ging sie über schmutzigen Sand, wie auf jedem Schulhof.
Sie fragte sich, wie um alles in der Welt jemand glauben konnte, das hier sei ein passendes Lokal für eine Teenager party.
Aber sie würde ihre Pflicht erfüllen, wie immer.
Sie griff nach ihren schweren Tüten, versuchte, strahlend und freundlich zu lächeln, und betrat die heruntergekom mene, kindersichere Küche. Sie hatte ihre eigenen Gum mihandschuhe mitgebracht, routiniert, wie sie war, und zusätzliches Küchenpapier. Einige Eltern schnitten schon Gemüse für den Salat, andere bereiteten Geflügelnuggets und den Tofu vor, der über Nacht in einer Soja und Honig marmelade gelegen hatte. Messer funkelten in der grellen Beleuchtung, Schranktüren knallten, eine muntere Stim me rief, irgendwer müsse doch einen Flaschenöffner mit gebracht haben, wer hier einen Flaschenöffner habe?
Louise ging derweil langsam zur U Bahn. Sie hatte sich noch immer nicht richtig beruhigt. Zuerst hatte Kaj sie überhaupt nicht auf das Fest lassen wollen. Dann, als Lou ise nicht zu überreden gewesen war, hatte er sie fahren wol len. Auch das hatte sie verhindern können. Sie wollte nicht Kajs ungewöhnlich großes und silbern glänzendes Motor rad Gesprächsthema in der Schule werden lassen. Wollte nicht, dass Kaj in der Schule Gesprächsthema wurde.
Ihre Gedanken kreisten um Kaj, das Video und die Liebe. Kaj hatte fast ein Kreuzverhör mit ihr angestellt. Kaj hatte sie ins Kreuzverhör genommen.
War das schon einmal passiert? Warum könnt ihr nichts unternehmen? Diese Frage war am schwersten zu beant worten. Wie gewöhnt ein Mensch sich daran, erniedrigt zu werden? Sie wehrte sich doch sonst immer - wie konnte sie sich an eine Mauer drücken lassen, so hart, dass ihre Kno chen knackten, ohne zu reagieren?
»Es gibt doch keinen Unterschied«, hatte Kaj fast ge schrien, »zwischen dir und einer Frau, die von ihrem Mann misshandelt wird und sich einreden lässt, dass sie daran schuld ist. Oder dass das Wetter schuld ist. Oder die Fußballmannschaft, wenn sie verliert und er seine Enttäu schung einfach irgendwo abreagieren muss.«
Kaj hatte richtig verzweifelt ausgesehen.
»Dieser Typ hat dich dazu gebracht, dich selbst als Opfer zu sehen, dich wie ein Opfer zu verhalten. Merkst du nicht, wie schrecklich das ist? Er macht dich zu der Sorte Opfer, der du doch eigentlich helfen solltest. Jetzt musst du dir sel ber helfen, sonst wird das Wichtigste, das du besitzt, deine Selbstachtung, langsam verschwinden.«
Und Kaj war vor ihr zu Boden gesunken und hatte den Kopf auf ihre Knie gelegt.
»Und wenn die verschwindet, dann verschwindest du auch. Du darfst einfach nicht auf diese Weise verschwin den, das könnte ich nicht ertragen.«
Und Louise hatte versprochen, auf gar keine Weise zu ver schwinden, und sie waren von ihren Gefühlen füreinander dermaßen überwältigt worden, dass ihre Körper weiterge macht hatten, wo die Worte nicht ausreichten.
Das letzte Kind war um Viertel nach sechs aus der Tagesstät te Walderdbeere abgeholt worden, fünfzehn Minuten nach dem offiziellen Feierabend. Jetzt führten die Eltern der Ju gendlichen einen ungleichen Kampf gegen das Lokal, gegen andere parallele Feste, vor allem aber gegen die große Pein lichkeit, die immer
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