Wofuer es sich zu sterben lohnt
gut.
»Lass zurücklaufen.« Kajs Stimme war schroff, und er kniff die Augen zusammen.
Es schien keinen Sinn zu haben, ihn nach einem Grund zu fragen. Louise spulte zurück und drückte auf »play«. Nun war wieder der Schulhof zu sehen, das Klassenzim mer, ein Gang. Der Kameramann hatte das restliche Team vorausgehen lassen. Auf die Kamera kam jetzt eine Grup pe von Schülern zu, dann der afrikanische Putzmann und hinter ihm Louise. Hinter ihr nun wieder eine kleine Grup pe von Jungen. Sie schienen den Kameramann nicht gese hen zu haben, oder wenn doch, dann war ihnen das egal. Als sie Louise überholen wollten, machte einer von ihnen zwei rasche Schritte zur Seite und presste sie hart gegen die Wand.
Kaj war aufgesprungen, als befinde sich im Zimmer ein Feind aus Fleisch und Blut.
»Aber was zum Teufel macht der denn da? Wann ist das passiert? Warum hast du nichts erzählt?«
Louise ließ ihren Zeigefinger über Kajs Arm streifen und lehnte sich zurück.
»Das war doch nicht der Rede wert.«
»Nicht der Rede wert?«
Kaj riss die Fernbedienung an sich, ließ zurücklaufen und hielt das Bild mitten in der Szene an. Jetzt war zu sehen, dass Louise keinen Boden mehr unter den Füßen hatte, sie hing in der Luft, eingeklemmt zwischen der Wand und der breiten Schulter des Jungen. Ihr Mund war offen, sie hatte die Augen aufgerissen und schaute zur Seite, um zu sehen, was auf dem Gang geschah.
Louise schwieg eine Weile, dann sagte sie vage und ver legen:
»Mir ist doch nichts passiert, das hat nur einen Augen blick gedauert.«
Kaj schien seinen Ohren nicht trauen zu wollen.
»Sag nicht, du hättest das einfach geschehen lassen! Hast du ihn nicht angezeigt? Kann er nicht von der Schule ge worfen und verpflichtet werden, ein halbes Jahr lang Graf fiti zu entfernen?«
Louise schlug die Augen nieder und schüttelte den Kopf.
»Aber hast du denn völlig den Verstand verloren? Du wirst an deinem Arbeitsplatz einem sexistischen Übergriff ausgesetzt, und hier sitzt du und sagst, sanft und verzei hend, dass dir nichts passiert ist. Oder bittest du vielleicht um Entschuldigung dafür, dass er dich angrabscht? Was soll das heißen? Was ist mit deiner Selbstachtung passiert? Und wie willst du für die Mädchen in der Schule ein Vor bild ein, wenn du dich von blöden Muskelprotzen belästi gen lässt? Dem Kerl muss klargemacht werden, dass er sich so nicht aufführen darf. Die Schule muss doch irgendwel che Werte vertreten.«
Louise wiederholte, was die Lehrer so oft sagten.
»Viele von den Kindern haben Probleme zu Hause, sie müssen ihre Aggressionen irgendwo loswerden. Und wir müssen ihren Protest gegen die Welt der Erwachsenen auf uns nehmen.«
Kaj schüttelte den Kopf und zeigte auf den Jungen mit der schwarzen Trainingshose und der dicken Goldkette, der Louise belästigte, ohne sie auch nur anzusehen.
»Louise, wie alt ist er?«
»Juri? Achtzehn, vielleicht neunzehn. Wieso?«
»Sieh ihn dir an. Er ist alt genug, um zu heiraten, er kann jederzeit Vater werden. Er kann Motorrad oder Auto fahren. Er kann zum Militär einberufen werden und lernen, wie man mit Granatwerfern und automatischen Waffen um geht. Er ist doppelt so stark wie du. Wie wäre es, ihn nicht mehr als Kind zu bezeichnen?«
»Aber er ist doch wie ein Kind. Sieh dir nur sein Verhal ten an - findest du das erwachsen?«
»Ja, das finde ich. Es ist ja wohl nicht ungewöhnlich, dass Erwachsene ihre Stärke oder ihre Position missbrauchen. Oder meinst du vielleicht, dass jeder machtgeile Despot, je der Tyrann und Diktator als Kind betrachtet werden muss, weil er brutale Gewalt anwendet, um sich Respekt zu ver schaffen?«
Louise setzte sich gerade und sagte: »Das Problem ist, dass wir nicht viel machen können. Es hilft nichts, sie zur Rede zu stellen, denen ist es doch egal, was irgendein Lehrer sagt. Glaub mir, bei diesem Jungen haben wir alles versucht, bis auf eine Anzeige bei der Poli zei. Die schreckliche Wahrheit ist, dass ich und viele ande re einfach Angst vor ihm haben.«
Kaj starrte sie ungläubig an.
»Aber das ist doch der pure Wahnsinn! So kannst du nicht leben! So darfst du nicht leben!«
Das war eins der Dinge, die Louise anfangs überrascht hat ten. Für Kaj gab es nur geteilte Freude, geteilten Schmerz.
Kaj lief noch immer im Zimmer hin und her.
»Dir soll es gut gehen. Immer. Überall. Das ist meine Ver antwortung.«
Louise musste einfach lächeln.
»Du kannst aber nicht für alles die Verantwortung über nehmen, was in
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