Wofuer es sich zu sterben lohnt
Mann, der aussah wie Theo.
Die Kleidung fand immerhin eine Erklärung. Sie stand vor einer Schule. Alle Jugendlichen dort waren gleich ge kleidet, und einige hätten derjenige sein können, dessen Bild sie im Schuljahrbuch gesehen hatte.
Verdammt. Warum hatte sie Mariam nicht um ein bes seres Bild gebeten?
Auf dem Schulfoto war er sofort zu erkennen. Er war der Einzige mit der Kombination von brauner Haut, schmalem Gesicht, großen Augen und kleiner, gerader Nase.
Hier in Äthiopien wimmelte es offenbar von jungen Männern mit ähnlichem Aussehen.
Sie hatte irgendwo gelesen, dass japanische Primatenfor scher die Tiere besser auseinanderhalten können als ihre europäischen oder amerikanischen Kollegen. Das liege da ran, dass Japaner einander nicht an der Haar und Augen farbe erkennen, da die bei allen gleich ist. Stattdessen muss man sich die Gesichtsform einprägen, und wer dazu bei Menschen in der Lage ist, hat offenbar auch bei Affen we niger Schwierigkeiten damit. Ein Japaner hätte sicher so fort gesehen, dass keiner der jungen Männer vor der Schu le Theo war.
Um Viertel vor drei stand sie jedenfalls vor dem Haupt quartier der äthiopischen Bundespolizei, das neben dem Universitätskrankenhaus lag. Das wiederum war in direk ter Nachbarschaft der schwedischen Botschaft.
Sie wurde bereits am Tor durchsucht. Ihr kam das eher beruhigend als störend vor. Eine junge Polizistin in tadellos gebügelter Uniform durchsuchte ihre Tasche und überzeug te sich davon, dass es zwischen Monikas Haut und Bluse und Rock nur Luft gab.
Es war wie in Schweden - sie musste warten, bis sie ge holt wurde. Während dieser Zeit stellte sie fest, dass ihr Rock nicht nötig gewesen wäre. Die Kolleginnen hier schie nen die Wahl zu haben - knielange Röcke oder lange Ho sen. Sie hatten Rangbezeichnungen an den Schultern, soli de schwarze Schuhe und unterschiedliche Frisuren.
Eine schmächtige Frau kam mit ausgestreckter Hand auf sie zu, und Monika brauchte einen Moment, um zu begrei fen, dass sie Inspektor Tigist HaileGaebriel vor sich hatte.
Diese stellte sich vor und fragte, ob der Weg schwer zu finden gewesen sei.
»Überhaupt nicht.«
»Du kommst sechs Stunden zu spät.«
»Nein, wir haben doch drei Uhr gesagt.«
»Ja, und jetzt ist es neun.«
Monika schaute auf ihre Armbanduhr. Es war drei Uhr. Tigist schaute auf die Wanduhr. Die zeigte neun.
Plötzlich prustete Tigist los.
»Tut mir leid, du orientierst dich natürlich nach europäi scher Zeit. Hier nennen wir die erste Stunde des Tages eins, die, die ihr sieben nennt. Nachmittags kehrt sich die Sache dann um, was bei euch drei ist, ist neun bei uns.«
Monika schaute noch einmal auf die Wanduhr. Neun. Das war vielleicht keine besondere Überraschung. In die sem Land hier lag die Zeitrechnung sieben Jahre hinter der abendländischen zurück. Das Jahr fing im September an, der Heilige Abend fiel in den Januar. Und da konnte man doch damit rechnen, dass auch die Stunden auf ihre eige ne Weise gezählt wurden.
Sie war also sechs Stunden zu spät. Während sie geschla fen und gefrühstückt hatte und langsam durch die Stadt geschlendert war, hatte Tigist auf sie gewartet. Was für ein schlechter Start. Sie bat um Entschuldigung, aber Tigist be hauptete, es spiele überhaupt keine Rolle.
Sie stiegen mit schnellen Schritten eine ausgetretene Treppe hoch, und Monika fiel es plötzlich schwer, Tigists Tempo zu halten. Die Luft reichte nicht aus, sie fühlte sich unsicher auf den Beinen. Es war kein Herzinfarkt - sie kannte dieses Gefühl schon von ihrem ersten Besuch in Äthiopien.
Tigist wurde langsamer.
»Noch mal, tut mir leid, du bist an die Höhe natürlich nicht gewöhnt. Entschuldigung.«
Monika biss die Zähne zusammen und lächelte, als ma che es ihr überhaupt nichts aus, zu spät zu kommen und die halbe Invalidin zu spielen.
Tigists Büro entsprach dem übrigen Gebäude: gepflegt, aber abgenutzt. An der Wand hing ein Kalender, der nur von der Polizei stammen konnte - die Blätter wiesen ei nen Kranz aus Rangabzeichen auf, in der Mitte prangten Farbfotos von fröhlichen äthiopischen Polizistinnen. Ne ben dem Kalender hing ein vergrößertes, leicht vergilbtes Foto einer Pistole.
Monikas äthiopische Nachbarin Aster hatte ihr einge schärft, niemals Speisen oder Getränke abzulehnen - das gelte als frech und unverschämt. Deshalb nahm Monika dankend an, als Tigist Kaffee anbot, obwohl sie es ja ei gentlich eilig hatten.
Mehr als Gastgeberin denn als
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