Wofür stehst Du?
Beides, die große Angst der Politiker und die große Vergesslichkeit der Medien, gingen letztlich immer auf Kosten der Wahrheit.
Aber es gibt doch Wahrheiten, die jeder halbwegs kundige Mensch kennt, innerhalb und außerhalb der Politik! Jeder weiß doch zum Beispiel, dass in der unaufhaltsam älter werdenden Gesellschaft die Aufwendungen für Rente und Pflege eines Tages nicht mehr auf dem heutigen Niveau getragen werden können.
Stimmt, sagt R. Man müsste den jungen Berufstätigen sagen: Fangt rechtzeitig an, euern Ruhestand zu organisieren! Bildet, wenn ihr nicht das Glück habt, von euern Kindern unterstützt zu werden, Wohngemeinschaften auch mit anderen Alten, in denen Menschen mit unterschiedlichen Begabungen und unterschiedlichem Grad der Gebrechlichkeit einander helfen können! »Das wird ganz sicher kommen, und es wäre an der Zeit, jetzt schon eine ernsthafte Debatte anzustoßen. Der Staat kann in 20 Jahren den Unterhalt der Alten nicht mehr in dem versprochenen Umfang stemmen. Aber was meinen Sie, was hier los wäre, wenn ein Politiker das öffentlich sagen würde?«
R. weiß natürlich, dass dies zwar ein ganz wichtiges Problem der Zukunft ist, dass die Menschen aber angesichts der Krise noch von ganz anderen Existenzsorgen geplagt werden. Im eigenen Freundes- und Verwandtenkreis hört er immer wieder die Frage: Was machst du mit deinem Ersparten? R. kennt Menschen, die so viel Angst um ihr Vermögen haben, dass sie anfangen, »Gold im Garten zu vergraben«. Seine eigene Mutter erzähle ihm diese Geschichten. R. sagt, dass eine weitere Destabilisierung der Europäischen Union und ihrer Währung die »schlimmste Bedrohung seit Jahrzehnten« wäre.
Was machen Politiker, die in den allermeisten Fällen keine Ökonomen und keine Finanzexperten sind, um uns zu schützen? R. sagt, man hole sich Rat. Man frage die führenden nationalen und internationalen Spezialisten. Er wolle aber nicht leugnen, dass sich die Fachleute gerade in den wichtigsten Fragen häufig widersprächen – die einen sagten, man müsse in der Krise sparen, die anderen behaupteten das genaue Gegenteil. Am Ende müsse eine Entscheidung stehen, die zumindest die größeren Aussichten auf Erfolg und das geringere Risiko bedeute. Aber niemand könne mit Sicherheit vorhersagen, was in der Krise helfe. Das sei auch ein Problem, sagt R. Es gebe in den meisten Fällen nicht nur den einen Weg. »Wenn Sie mich also fragen, ob ich die Wahrheit sage, dann muss ich festhalten, dass es die eine Wahrheit selten gibt. Aber ich muss an den Weg glauben, für den wir uns entscheiden, sonst geht es gar nicht.«
Es fällt auf, dass R. eine große Vorliebe für die systemimmanente Erklärung hat. Wir, die Nicht-Politiker, stellten uns das immer alles so einfach vor: Da gibt es ein Problem, eine Diagnose und eine Medizin. Fast jede Entscheidung aber sei ein so hochkomplexer Vorgang, das könne sich unsereiner nur schwer vorstellen. Und zwar nicht nur, weil hoch entwickelte parlamentarische Demokratien kompliziert seien, sondern auch, weil die Menschen kompliziert seien. Er sagt: »Wenn du einer Pressure-Group nachgibst, das lehrt jede Erfahrung, rufst du ein paar andere auf den Plan. Und wenn du einer Gruppe dann auch noch alles gibst, hast du in der Gesellschaft Mord und Totschlag. Da kann man das Regieren einstellen.« Besonders konfliktreich werde es, wenn eineOppositionspartei an die Macht komme, die vorher einer gesellschaftlichen Gruppe ganz viel versprochen hat. Man merkt, dass R. ein noch sehr frisches Beispiel vor Augen hat.
Und dann kämen noch die persönlichen Eigenschaften mächtiger Männer und Frauen hinzu, die politische Prozesse noch stärker beeinflussten als die Abwägung von Interessen. »Das war eigentlich die größte Überraschung für mich, als ich das aus größter Nähe erleben konnte.« Es gebe Politikertypen wie Nicolas Sarkozy, die sich nur motivieren könnten, »wenn sie Projekte kurz vor der Weltrettung anpacken«. Auch Guido Westerwelle sei ein bisschen so.
Aber R. sagt auch, dass das Zögerliche und Suchende im politischen Prozess auch einen Vorteil habe. Anders als Außenstehende oft dächten und Systemkritiker agitierten, sei der moderne Staat von großer Stärke. »Er kann sich im Prinzip gegen jeden und alles durchsetzen.« Wenn der Staat sich dann einmal entscheide und in die Freiheit eingreife, habe er leider die Wirkung einer Dampfwalze, »da ist es ganz gut, wenn man möglichst lange zögert«. R. hat selbst
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