Wofür stehst Du?
nicht selten. Auch auf dem Schulweg nahmen wir regelmäßig, wenn wir an einer bestimmten Straße vorbeikamen, die Beine in die Hand,mit den Jungens dort war ebenfalls nicht zu spaßen, wenn sie einen von uns erwischten. Das wussten wir aus Erfahrung.
Erst mit fünfzehn fuhr ich zum ersten Mal in ein anderes Land, nach Italien, in ein Ferienlager am Gardasee, geleitet von niedersächsischen Polizisten, die das ehrenamtlich in ihren Ferien machten. Die Kommissare konnten aber auch im Urlaub nicht von ihren Gewohnheiten lassen: Mehrere Male wurde ich regelrechten und sehr scharfen Verhören unterzogen, weil man mich Händchen haltend mit einem Mädchen erwischt hatte. Das war verboten, denn die Kommissare hatten panische Angst davor, eines der Mädchen könnte schwanger werden – und sie würden dafür zur Rechenschaft gezogen, weil sie ihrer Aufsichtspflicht nicht nachgekommen wären. Nur knapp entging ich der Heimreise.
Niemand sonst aus unserer Familie war je im Ausland gewesen, mein Vater natürlich ausgenommen, der als Soldat mit der Eroberung diverser Länder beschäftigt gewesen war – und für den danach jegliches Ausland immer etwas Bedrohliches hatte. Erst als Rentner wagte er, bedrängt von meiner Mutter, erstmals wieder eine Reise nach Frankreich, natürlich in einer Reisegruppe. Ich werde nie vergessen, wie sie mir von dieser Fahrt erzählten: Ein einziges Mal waren sie in der Normandie ohne ihre Gruppe unterwegs gewesen und hatten, weil sie einfach nicht wagten, allein ein französisches Restaurant zu betreten, bei McDonald’s gegessen. Das kannten sie wenigstens aus Deutschland, von Besuchen mit ihren Enkeln.
Entschuldigung, doch, einer meiner beiden Patenonkel war in den Fünfzigerjahren einmal nach Italien gefahren,aus beruflichen Gründen. Die Firma, in der er arbeitete, produzierte Rechenmaschinen und zeigte sie auf einer Messe in Mailand, da war er drei Wochen lang dabei. Bis heute unterhält mein lieber Onkel die Familie mit den Schilderungen des Essens in Italien und den damit verbundenen technischen Problemen, bei Spaghetti natürlich und auch bei grünem Spargel, den er noch nie gesehen hatte. Der Kellner machte ihm schließlich vor, wie der zu essen sei, biss den Spargelkopf ab, sagte buono und ließ den Rest auf dem Teller liegen. Das kannte der Onkel nicht: dass man nur das Beste aß und etwas auf dem Teller ließ … Er war froh, dass es in Italien auch Wiener Schnitzel gibt. Bloß heißt es eben nicht Wiener Schnitzel, sondern cotoletta alla milanese.
Es blieb sein einziger Auslandsaufenthalt, ein Leben lang.
Aber langsam kehrten italienische Lebensmittel bei uns ein, »Spachetti« zum Beispiel, wie meine Großmutter sagte, und »Matscheroni«, sehr viel später dann erst »Gnotschi«, so meine Mutter. Sie wurden gekocht und dann mit Ketchup übergossen, ein reines Kinderessen. Mein Vater rührte es nicht an.
Ich machte mich auf die Suche nach einem Stück Heimat in Hannover, aber ich fand nichts. Das Essen in den Pizzerien schmeckte anders als das in Rom, und die Kellner behandelten uns nicht wie Italiener. Einmal hörte mein Bruder, wie ein Pizzabäcker aus dem tiefsten Süden zu seinem Kollegen sagte: »Warum müssen uns diese Deutschen auch noch auf Italienisch anquatschen?« Wo es noch nicht schick war, machten die ersten italienischen Lebensmittelläden auf. Unweit des Steintors verkaufte eine Sardin Nudeln, Tomatenkonserven und billiges Olivenöl. Dazu gab es einen Imbiss; sie machte Panini mit Parmaschinken und Cappuccino. Im Hintergrund dudelte trostlose italienische Schlagermusik, die ich in Italien noch nie gehört hatte: Mamma Leone , gesungen von einem gewissen Bino, und Tornerò von I Santo California.
Ich fand die Heimat nicht, wenn ich an frühen Abenden durch die gepflegten Wohnviertel am Waldrand stromerte. Dann schaute ich über sauber geschnittene Hecken in stimmungsvoll beleuchtete Wintergärten, in denen Familien beim Abendessen saßen. Jedes Detail, das ich zu erkennen glaubte, schien mir unerreichbar weit entfernt zu sein, sogar der Obstsaft von Granini, der bei uns nie auf den Tisch kam, weil so ein Getränk für uns plötzlich zu teuer geworden war. Auch die deutsche Sprache, die wir in Italien zuletzt nur noch gesprochen hatten, wenn Verwandte aus Deutschland zu Besuch kamen, bot mir zunächst keine Heimat. Es reichte für eine Vier oder eine Drei minus in Deutsch, aber ich spürte die Ohnmacht, wenn ich versuchte, etwas genauer zu beschreiben, und mir
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