Wofür stehst Du?
die sechste eines humanistischen Gymnasiums verpflanzt, zur Akklimatisierung musste ein knappes halbes Jahr an der Deutschen Schule in Rom reichen. Der Klassenlehrer in Hannover bemühte sich nach Kräften, uns für die Mitschüler annehmbar erscheinen zu lassen – leider in völliger Verkennung unserer Talente: Es kämen da zwei wahre italienische Fußball-Cracks in die Klasse, verkündete er den anderen. Es war allenfalls die Kraft der Verzweiflung, die mich dazu trieb, in der ersten Sportstunde das erste Tor zu schießen. Danach war es vorbei mit meiner Fußball-Karriere in der Klasse 6d.
In anderen Fächern lief es für mich besser, dachte ich zumindest. Doch schon nach wenigen Wochen nahm mich die gutmütige Deutschlehrerin beiseite und gab mir einen guten Tipp: »Es macht sich nicht gut«, sagte sie, »wenn man vor den anderen Schülern zu erkennen gibt, dass man mehr weiß als sie.« Ich weiß noch, dass sie im Unterricht gefragt hatte, was ein Kibbuz sei – und ich mich gemeldet hatte. Kurz darauf fragte mich ein ansonsten freundlich gesinnter Klassenkamerad während des Lateinunterrichts, ob es denn in Rom auch richtige Häuser gebe. Er stellte sich eine Stadt vor, die vor allem aus Kirchen, Säulen und Höhlen bestand.
Allmählich verstand ich, welches Bild die Deutschen von den Italienern hatten. Ich sah sie zum ersten Mal am Hauptbahnhof in Hannover, diese Italiener, die meine Landsleute waren. In Gruppen standen sie da, die meisten dunkel gekleidet, und unterhieltensich in Dialekten, die ich noch nie gehört hatte. Sie ähnelten immer noch jenen verloren wirkenden Gestalten aus Viscontis Rocco und seine Brüder , die der Zug aus Bari spätabends auf dem Mailänder Hauptbahnhof in die Großstadt entließ. Der eine oder andere von ihnen hatte einen rosafarbenen Fleck unter dem Arm – eine mindestens zwei Tage alte Gazzetta dello Sport . So oder so ähnlich sahen viele Deutsche die Italiener, und ich merkte bald, dass es viel Kraft kostet, sich nicht mit den Augen derer zu sehen, die auf einen herabblicken.
Wie fundamental sich Deutschland in fünfzig Jahren verändert hat, wird mir am besten durch einen Vergleich bewusst: Meine jüngste Tochter ist fünf Jahre alt und hat drei beste Freundinnen. Die Mutter der allerbesten Freundin ist Peruanerin, der Vater Deutscher. Die Eltern der zweitbesten Freundin sind Vietnamesen. Die drittbeste Freundin stammt aus Bosnien, beide Eltern sind vor etlichen Jahren von dort gekommen.
Als ich fünf Jahre alt war, also 1961, kannte ich, ebenfalls in einer niedersächsischen Provinzstadt lebend, keinen einzigen Ausländer, von den Menschen im Aussiedlerlager auf der anderen Straßenseite einmal abgesehen, die aber keine Ausländer waren, sondern uns nur wie solche vorkamen. Sie waren Deutsche, aus Polen oder der UdSSR gekommen, hier erst einmal für mehr oder weniger lange Zeit in schäbigen Baracken lebend. »Die Polen«, nicht selten auch »die Pollacken«, hießen sie überall. Dabei waren sie keine Polen, sondern eben vondort übergesiedelte Deutsche. (Oft waren sie nicht einmal aus Polen gekommen, sondern aus Russland, aber egal, sie blieben »die Polen«.)
Einige von ihnen waren meine Spielkameraden, und mit einem freundete ich mich sehr an. Er besuchte mich zu Hause. Bei ihm daheim zu spielen war schwer möglich, seine ganze Familie hauste in einem Zimmer, es roch immer nach Kohl, ein betrunkener Vater, nur mit Hose und Unterhemd bekleidet, schrie herum, eine überforderte Mutter schrie zurück. Meinen Kameraden mochte ich gerne, doch spürte ich, wenn er zu uns kam, dass meine Eltern ihn ungern im Haus haben wollten; ein seltsames, aber untrügliches Gefühl. Bevor das irgendwelche Folgen haben konnte, verließ er mit seiner Familie schon wieder das Lager und verschwand, ich weiß nicht wohin.
»Die Baracken« hatten fremde, bedrohliche Präsenz für uns Kinder. Es gab dort eine ganze Weile einen älteren Jungen, der gebrochen Deutsch sprach und oft auftauchte, wenn wir im Park Fußball spielten. Er hatte dann ein, zwei Kumpane dabei, verwahrlost wie er, gebrochen Deutsch redend. Sie kickten einfach mit, ob wir wollten oder nicht. Wenn irgendetwas passierte, was ihnen nicht passte, wenn ein Tor gegen sie fiel oder einer sich angerempelt fühlte, schlugen sie einen von uns zusammen.
Wir hatten deshalb Angst vor denen aus dem Lager. Andererseits erschienen uns die Prügeleien nicht als etwas Ungewöhnliches. So etwas passierte damals, in den Sechzigerjahren,
Weitere Kostenlose Bücher