Wofür stehst Du?
verbindlich verlangen müsste, könnte, sollte – dann ist es nicht die Last von mehr Abgaben, sondern die Bereitschaft, dem Landoder der Stadt oder auch nur einer bestimmten Gruppe von Menschen, denen man sich nahe fühlt, etwas zurückzugeben von all dem, das man selber erfahren hat. Natürlich nimmt die Fähigkeit zur Empörung mit den Jahren ab, sei es, weil man vieles nicht mehr an sich heranlässt, sei es, weil man mit den Jahren gelernt hat, bestimmte Ereignisse zu relativieren, um sie besser verarbeiten zu können.
Dafür aber nimmt die Gelassenheit zu und die Fähigkeit, sich mit Problemen auseinanderzusetzen. Der 55-jährige Manager, der sich für eine Kita in einem Außenbezirk mit besonders hohem Migranten-Anteil engagiert, ist vermutlich mindestens genauso effizient wie die junge Sozialarbeiterin im Jugendzentrum ein paar Straßen weiter. Man kann viel Gutes tun, auch wenn man in keiner Partei aktiv ist oder in den nächsten Stadtrat einziehen will oder kann. Und man hat doch zumindest die simple Pflicht, sich als informierter, reflektierender Staatsbürger zu verhalten – und sich selbst den Rückzug in bequeme Gleichgültigkeit zu verbieten.
Ich will jedenfalls kein Jammern und kein Klagen mehr über Deutschland hören. Weder darüber, dass Politiker zu wenig Niveau hätten und zu langsam auf die Probleme reagierten, noch über die vermeintliche Neidgesellschaft, noch darüber, dass die Unterschicht sich selbst überlassen werde.
Es sei denn, dass der Beschwerdeführer den Nachweis eigener tätiger Hilfe vorzeigt.
Wie viel Wahrheit vertragen wir –
eine Stimme aus dem Inneren der Macht
Was würde eigentlich passieren, wenn Politiker von einem Tag auf den anderen damit anfingen, all das auszusprechen, was sie wirklich denken und wissen – völlig unabhängig von dem dann möglicherweise drohenden Echo in der eigenen Partei, in den Medien und vor allem beim Wähler?
Ich hatte mir vorgenommen, diese Frage einer der intelligentesten und einflussreichsten politischen Persönlichkeiten zu stellen, die ich in Deutschland kenne – einem Mann, der hier R. genannt sei.
Wir treffen uns in einem Berliner Restaurant, vor dem während unseres Gesprächs etwa eine Hundertschaft Polizisten und ein Wasserwerfer Aufstellung nehmen. Sie sollen einige luxuriös ausgestattete Geschäfte und das Restaurant absichern gegen eine Demonstration von Globalisierungsgegnern, von denen einige als militant gelten. Auf dem Höhepunkt der durch die drohende Pleite der Griechen ausgelösten Euro-Krise protestieren sie gegen das Maßnahmenpaket der Regierung, der R. angehört. Die Demo geht bei den Gästen im voll besetzten Saal in absoluter Gleichgültigkeit unter.
Sobald R. ungeschützt redet, sagt er kluge, selbstkritische und auch beunruhigende Sätze. Wäre der Sprecher dieser Sätze identifizierbar, wären etliche der Ansichten, die R. an diesem Abend äußert, gut für süffige Schlagzeilen in den Medien. Ganz zu Anfang zum Beispiel empfiehlt R. sich mit dem Satz:»Spitzenpolitiker zu sein ist eine psychische, physische, familiäre und bisweilen auch intellektuelle Zumutung.« Hier will aber nicht jemand den Beruf des Politikers schlechtreden, sondern nur einen Hinweis auf den Preis geben, den auch R. immer wieder dafür zahlt.
Was würde also passieren, wenn R., zum Beispiel bei Pressekonferenzen, immer nur die Wahrheit sagte? Er zögert lange. Bezeichnenderweise zieht er es zunächst vor, die Ursache zu benennen, die Politiker dazu bringen, in gestanzten Sätzen zu sprechen: Es sei die Gefahr, dass Sätze aus dem Zusammenhang gerissen werden, dass sie sich dann verselbstständigen und Tage, wenn nicht Wochen, für Ärger sorgen – in den Medien sowieso, aber auch in der eigenen Koalition, bei der Opposition, und, wenn es terminlich ganz schlimm kommt, beim Wähler. Wenn R. selbst über der Autorisierung eines Interviews brütet, hat er immer auch die Frage vor Augen, wo ein Sprengsatz liegen könnte. Bei schwierigen Themen gehe jede Unbefangenheit verloren.
Die Angst vor einem unvorsichtigen Wort sei aber nur die eine Seite des Problems. Die andere seien die Medien. R. holt gar nicht zu der bei Politikern beliebten Schelte aus, sondern stellt im Gegenteil etwas fest, was dem politischen Betrieb eher nützt: »Journalisten haben ein zu kurzes Gedächtnis. Sie prüfen in der Regel nicht nach, ob einer vor Kurzem nicht das genaue Gegenteil zum selben Thema gesagt oder Sachverhalte ganz falsch dargestellt hat.«
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