Wofür stehst Du?
hatte mich längst für den Deutsch-Leistungskurs entschieden. Meine Mutter und mein Bruder gingen zurück nach Italien. Ich blieb. Denn ich hatte endlich eine Heimat gefunden: die Sprache. Es war ein schönes Gefühl.
Ich kenne sie, die gepflegten Wohnviertel am Stadtrand von damals, mit den sauber geschnittenen Hecken und den Jägerzäunen drum herum und den Familien, die man abends durchs Fenster sieht, wie sie beim Essen sitzen. Ich bin dort aufgewachsen. Es hätte,von Hannover aus sechzig Kilometer weiter Richtung Osten, meine Familie sein können, die der Junge aus Italien beim Herumstromern sah.
Ich denke an dieses Elternhaus als einen Ort großer Geborgenheit. Wir Kinder waren tagsüber fast immer irgendwo draußen unterwegs, spielten in den Gärten, im Park, im Wald, auf der Straße, und abends wartete dieser Esstisch mit Wurst- und Käsebroten und Früchtetee, »Abendbrot« hieß das. Danach lag ich in meinem Bett und las.
Ein Idyll? Das war es nicht.
Mein Vater regte sich fast jeden Abend aus irgendeinem Grund auf über einen meiner Brüder, der nur wenig jünger war als ich und oft krank, verletzlich und eigensinnig, und dessen Schwäche der Vater schier nicht aushielt. Er begann zu schreien und zu toben, und es ist mir heute, als schrie und tobte er nicht wirklich über den Sohn, meinen Bruder, sondern eigentlich über sich selbst, seine eigene, vom Krieg her rührende Schwäche, seine Verletzungen und seine eigene, stets uneingestandene Angst. Schweigend nahmen wir das Gewitter entgegen. Je größer ich jedoch wurde, desto mehr stellte ich mich auch dem Vater entgegen, versuchte den Bruder in Schutz zu nehmen. Oft liefen wir im Streit auseinander von diesem Familientisch und jeder schwieg irgendwo unglücklich vor sich hin.
Mit zunehmendem Alter empfand ich eine Fremdheit gegenüber dieser Familie, dem Unausgesprochenen dort, dem Unerklärten und dem in Schweigen Erstarrten, eine unabänderliche Fremdheit, die mich heute traurig macht, weil ich jetzt glaube zu wissen, was meine Eltern bewegteoder eben gerade nicht bewegte, sondern bewegungslos machte. Und weil ich, da sie beide früh starben, nie mit ihnen darüber reden konnte. Allerdings weiß ich auch nicht, ob mir ein Gespräch gelungen wäre, hätten sie länger gelebt.
Die Vergangenheit existierte in dieser Familie oft wie hinter Milchglas. Ich hörte zum Beispiel als Kind meine Eltern in Ausdrücken reden, die ich nicht verstand. Sie beklagten, wenn ihnen etwas zu schnell ging, »diese jüdische Hast«, oder sie sagten, wenn man etwas wieder und wieder tun musste, üben zum Beispiel, man müsse es tun »bis zur Vergasung«. Ich kannte als Kind den Hintergrund dieser sprachlichen Wendungen nicht. Aber als ich ihn kennenlernte, als ich erfuhr, dass in Deutschland die Juden verfolgt und ermordet worden waren und dass der Krieg, der zweite nun schon in einem Jahrhundert, von Deutschland ausgegangen war – da spürte ich, dass das Land, in dem ich groß wurde, keines war, dem man sich einfach so zugehörig fühlen konnte, sondern dass man ihm misstrauen musste. Dieses Trennende wurde nicht geringer dadurch, dass es unendlich schwer war, mit den eigenen Eltern offen über diese Vergangenheit zu reden, sicher nicht, weil sie etwas zu verbergen hatten (meine Mutter zum Beispiel war bei Kriegsende 17), sondern weil sie selbst rat- und sprachlos waren.
Ich bin mitten in Deutschland geboren, mitten in Deutschland aufgewachsen, ich bin ein Deutscher. Aber ich dachte als Kind oft, es müsse schön sein, Franzose oder Italiener zu sein, Bürger eines Landes, in dem man sich einfach so, ohne jedes Wenn und Aber, geborgen und sicher fühlen konnte.
Ich wuchs also mit dem Gefühl einer Fremdheit gegenüber dem eigenen Land auf, einem unabänderlichen Misstrauen.
Als ich das Buch Unser Jahrhundert las, das lange Gespräch zwischen Helmut Schmidt und Fritz Stern, haben sich mir einige Sätze von Schmidt besonders eingeprägt:
»Ich habe ein dumpfes Gefühl im Bauch, dass es irgendwelche Gene gibt, die dabei eine Rolle spielen. (…) dass jemand in großer Zahl fabrikmäßig Menschen ermordet – das ist einmalig. Und das ist für mich der Grund, weshalb mir mein eigenes Volk nach wie vor ein bisschen unheimlich ist. Mein Vertrauen in die Deutschen ist nicht unbeschränkt groß, muss ich bekennen … Man kann das Wort Gene von mir aus ersetzen und sagen, dass es irgendeine Veranlagung gibt. Das kann man machen, dann ist die Konnotation, die mit dem Wort
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