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Wofür stehst Du?

Wofür stehst Du?

Titel: Wofür stehst Du? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giovanni di Lorenzo Axel Hacke
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die Worte fehlten.
    Schon gar nicht fand ich die Heimat, wenn ich mich aus der Beamtenhochburg der Südstadt auf den Weg in die Stadt machte. »Die Stadt«, das stand plötzlich nicht mehr für Basiliken, Paläste und Piazze, so anheimelnd wie Wohnzimmer. Es beschrieb eine Ansammlung hässlicher Kaufhäuser, die »City« genannt wurde. Wo ein Stück Altstadt den Kriegüberstanden hatte, gab es nur ein paar Fachwerkhäuser, innen längst entkernt und funktional gemacht, außen so sauber saniert, dass sie wie Kulissen eines Freizeitparks wirkten.
    Natürlich habe ich auch gemerkt, wie gut ich es noch hatte. Immerhin hatte ich eine deutsche Mutter, eine Akademikerfamilie und einen ganz selbstverständlichen Zugang zum Gymnasium. Und das Gefühl, fremd im eigenen Land zu sein, kannte ich ja schon aus Italien. Dort hatten mir der italienische Vater und der italienische Name auch nicht geholfen; mein Bruder und ich waren wegen meiner Mutter immer i tedeschini , die kleinen Deutschen. Aggressivität habe ich in Italien allerdings selten zu spüren bekommen, auch nicht vor dem WM-Halbfinale zwischen Deutschland und Italien 1970 in Mexiko.
    In Hannover war das plötzlich anders. Ich muss heute öfter daran denken, weil es mir manchmal so vorkommt, als litten wir im Alltag mehr an einem Übermaß an Korrektheit als an Fremdenfeindlichkeit. Ich bin zum Beispiel genervt, wenn ich mich wieder einmal sprachlich verrenken muss, um das Wort »Ausländer« zu vermeiden. Aber damals war es schlimmer. Am humanistischen Gymnasium waren mein Bruder und ich die einzigen Ausländer, und als ich nach einigen Jahren zum Schülersprecher gewählt wurde, gefiel das nicht jedem. Der Oberstudienrat, der sich rühmte, noch immer eine Panzerfaust halten zu können,und als alter Nazi galt, kommentierte meine Wahl vor versammelter Klasse mit den Worten: »Di Lorenzo, diesen Itaker, sollte man aufhängen.« Er hatte mich zwar noch keine einzige Stunde unterrichtet, hielt mich aber für einen ganz gefährlichen Revoluzzer.
    Obwohl es genug Zeugen für den Vorfall gab, kostete es mich Überwindung, ihn beim Schulleiter anzuzeigen. Der Direktor äußerte vor allem die Sorge, dass hier etwas »aufgebauscht« werden solle. Doch das war für mich gar nicht das Schlimmste. Schlimmer war, dass ich, als ich ihm von der Beschimpfung erzählte, in Tränen ausbrach. Zu Hause habe ich kein Wort über die Geschichte verloren. Ich dachte, meine Mutter würde das nicht aushalten.
    In den Monaten des Jahres 2010, in denen die furchtbaren Missbrauchsfälle an einigen der besten Schulen des Landes endlich öffentlich wurden, merkte ich, dass eine große, eine unbändige Wut in mir aufstieg. Ich konnte so gut nachempfinden, was ein Vierzehnjähriger fühlt, wenn der eigentliche Adressat seiner Klage, derjenige, der für Gerechtigkeit, ja für Strafe sorgen müsste, zum Komplizen des Täters wird, oder, wie im Fall des ehemaligen Leiters der Odenwaldschule, selbst derjenige ist, der sich an Kindern vergriffen hat. Die Schmähung durch einen alten Nazilehrer ist verglichen mit sexuellem Missbrauch ein geringes Vergehen. Aber ich spüre heute noch Ohnmacht und Trauer darüber, dass niemand da war, der Trost und Schutz geben konnte. Was mit einem anderen, nicht minder quälenden Gefühl einherging: Wenn mir so etwas passiert, dann bin ich vielleicht selber daran schuld.
    Die elfte Klasse musste ich wiederholen. Ich wechselte vom humanistischen auf ein neusprachliches Gymnasium, eine experimentierfreudige Lehranstalt,die im Vergleich zu der vorigen so antiautoritär wie Summerhill wirkte. Die meisten Lehrer und Schüler standen weit links. Auch hier war ich Schülersprecher und bei meinen neuen Mitschülern ziemlich beliebt. Aber es war ganz normal, dass ich vom Oberstufenkurs Gemeinschaftskunde gelegentlich mit einem kräftigen »Ausländer raus!« begrüßt wurde, wenn ich den Klassenraum betrat. Das hielt man für witzig. Und die linken Lehrer hörten weg. Ausgerechnet an dieser Schule tummelte sich eine kleine, aber in ihrem Auftreten besonders fiese Gruppe junger Neonazis. Einer von ihnen machte später eine rasante Karriere als rechter Terrorist. Wir Mitschüler bemerkten die Umtriebe durchaus, sie waren auch gar nicht zu übersehen. Aber ich kann mich an keine Schulstunde erinnern, in der wir uns mit den Nazis im eigenen Haus auseinandergesetzt hätten.
    Als ich kurz vor dem Abitur stand, wurden meine ersten Artikel in der Hannoverschen Neuen Presse gedruckt; ich

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