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Wofür stehst Du?

Wofür stehst Du?

Titel: Wofür stehst Du? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giovanni di Lorenzo Axel Hacke
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Gene verbunden ist, vermieden. Aber das Rätsel bleibt, was die Deutschen hier gemacht haben.«
    Ist das irgendwo sonst auf der Welt denkbar: dass ein ehemaliger Regierungschef sagt, sein eigenes Volk sei ihm unheimlich?
    Gab es Zeiten, in denen ich diesem Land wirklich nah war, in denen ich es mochte? In denen ich also nicht nur dachte , dass dies mein Land ist, ein schönes Land? Sondern in denen ich das fühlte?
    Das waren die Jahre, in denen die DDR zerfiel und ich, kaum waren Mauer und Grenzzaun weg, Rucksack und Tasche in den Kofferraum meines Autos warf, um loszufahren und mit Leuten zu reden, die plötzlich, nach mehrals vierzig Jahren Sozialismus, ihr Leben neu suchen, erfinden, gestalten mussten. Ich war, als Zeitungsreporter, gepackt davon, in etwas ganz und gar Fremdem das sehr Vertraute zu entdecken, und es begeisterte mich, dass es möglich war, nun hinter diese Zonengrenze zu blicken, die für mich als Kind das Ende der Welt gewesen war. Nie zuvor und nie danach habe ich eine solche Offenheit von Menschen irgendwo in Deutschland erlebt, eine solche Bereitschaft, alles infrage zu stellen und über alles zu reden. Nie zuvor und nie danach habe ich so viele imponierende, anrührende, aufregende, ergreifende, ehrliche, anständige Geschichten über mein Land gehört.

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Siegfried Malaschewski, den ich in Hötensleben traf, einem Dorf in Sachsen-Anhalt. Der war als Dreijähriger zusammen mit Bruder und Schwester, schließlich sogar ganz allein aus Ostpreußen nach Westen gewandert, ohne die Mutter, die bei seiner Geburt gestorben war, und ohne den in Kriegsgefangenschaft geratenen Vater, zuerst mit einem Köfferchen in der Hand, dann ohne dies, ein russischer Soldat hatte es ihm abgenommen. Er landete in verschiedenen Heimen in der DDR (keine schöne, eine prügelreiche Zeit), schließlich in jenem Hötensleben, wo er Pflegeeltern bekam, nur einige Hundert Meter von der Zonengrenze und später vom Todesstreifen und vielleicht dreißig Kilometer von der Stadt entfernt, in der ich aufwuchs, bloß eben auf der anderen Seite der Grenze. Er blieb in der Ostzone, er verließ auch die DDR nicht, obwohl das möglich gewesen wäre – warum? Er habe das nicht geschafft, sagte er, diesen einen einzigen weiteren Schritt habe er nicht mehr geschafft, so froh sei er gewesen,nach der großen Wanderung irgendwo angekommen zu sein. Aber er fand eine Frau, er hatte eine Familie, ein kleines Haus mit einem Garten.
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Der Mann, so Mitte fünfzig, mit dem ich auf einem Parkplatz beim früheren Grenzkontrollpunkt Marienborn ins Gespräch kam, ein kleiner dünner Kerl mit zwei blutigen Rasiernarben am schon faltigen Hals. Der erzählte mir von seiner Zeit als Soldat in der Nationalen Volksarmee und wie sie 1968, während der »Tschechenkrise«, in Alarmbereitschaft versetzt worden waren. Neunzig scharfe Schuss habe jeder von ihnen bekommen und damit ein plötzliches Gefühl der Macht: den eigenen Offizieren habe man mit einem Mal die Angst angemerkt, einer könne aus Wut über all die Schikanen mal einen von ihnen umlegen. Und ich dachte: Mit dem hier hättest du dich, wenn die Geschichte anders gelaufen wäre, im Krieg befinden können, und er hätte auf dich geschossen und du auf ihn.
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Der Protokollchef des Außenministeriums der DDR, den ich kurz vor dem 3.Oktober 1990 beim letzten Empfang für das Diplomatische Corps in Ostberlin traf, ein kleiner Mann, der Deutsch mit einem leichten französischen Akzent sprach, das muss man sich mal vorstellen, in der DDR. Er war als Diplomat in Guinea und Kongo-Brazzaville gewesen, und nun hatte er einen traurigen Blick, denn es war sein letzter Arbeitstag. Er wollte nicht als Letzter den Saal verlassen, »ich möchte hier nicht der Saalschließer sein«, sagte er, stieg unten in den Fonds eines dunkelblauen Lada und ließ sich noch einmal davonfahren, ein letztes Mal.
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Der Kohlenhändler Braun, den ich ein paar Mal inOstberlin traf, in der Prenzlauer Allee, Ecke Sredzkistraße, auf einem kleinen, mit Kohlenschmiere vollgesogenen Areal, auf dem Kopf eine schwarze Lederkappe, darunter die schwarzen drahtigen Haare zur Seite stehend. Immer wieder erklärte er mir mit rußumwölktem Haupt, wie sehr ihm die neue Freiheit gefalle, wie sehr er aber auch nun, in der Marktwirtschaft, gegen große Konzerne um preiswerte Kohle für seine Kunden kämpfen müsse. Als eines Tages die Kohlenhändler deswegen streikten, wurde er sogar von SAT.1 interviewt. »Da konnte man seine Meinung sagen, ohne

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