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Wofür stehst Du?

Wofür stehst Du?

Titel: Wofür stehst Du? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giovanni di Lorenzo Axel Hacke
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worauf unser schönes, sattes Leben basiert. Wir wollen gut sein, aber in Wahrheit geht es oft nur darum, uns gut zu fühlen. Wir regen uns über den diskriminierenden Unterton des Wortes »Ausländer« auf – und bestellen bei der netten Rumänin, die sich beim Italiener um die Ecke verdingt hat, Rucola mit Pinienkernen und Parmesan, Fettuccine mit Scampi und Kirschtomaten.

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    Mein Glaube an den Untergang
    oder
    Warum ich früher in die Kirche ging
und heute auf den Wertstoffhof
    Als ich klein war, schauten wir bei unseren Spaziergängen an der »Zonengrenze« oft hinüber in die DDR, ein zugleich sehr nahes und weit entferntes Land, wir sahen die Soldaten, den Zaun, die Patrouillen. Wenn ich meine Großmutter besuchte, betrachtete ich auf ihrer Anrichte das Foto ihres ältesten Sohnes, meines Onkels, der Bruder meines Vaters. Sie erzählte mir von ihm. Er war Bäckergeselle gewesen und am Ende des Kriegs »gefallen«, wie das immer hieß. Wir spielten im Wald, wo es seltsam-kreisrunde Teiche gab, mit Wasser gefüllte Bombentrichter, die britische Flugzeuge nach ihren Angriffen auf Braunschweig verursacht hatten, indem sie jene Bomben, die sie über der Stadt nicht abwerfen konnten, in die Wälder fallen ließen. Wir hörten am Samstagmittag die Sirenentests und lernten den Unterschied zwischen »Fliegeralarm« und »Entwarnung«. Und wir sahen, wenn wir in die Stadt fuhren, noch viele Jahre lang die Ruinen der Häuser, die im Krieg zerstört worden waren.
    Ich bin Anfang 1956 geboren, nicht mal elf Jahre nach Hitlers Tod.
    Mein eigener Vater hatte nur ein Auge und eine Wunde am Bein, die sein Leben lang nie heilte. Die Haut dort sah aus wie die Fäule eines Apfels, braun, und manchmal entzündete sie sich, dann war sie rot. Der Vater fluchte und umwickelte die Stelle mit einer fleischfarbenen Elastikbinde. Läuse hatten im Krieg an einer Schusswunde gefressen, das heilte nie, und Vater trug deshalb den Rest seines Lebens den Krieg als offene Wunde mit sich herum, die mal schmerzte, mal nicht.
    1968, ich war zwölf Jahre alt, verbrachten wir den Sommer an der Ostsee, und weil meine Eltern kein Auto hatten, kam mein Onkel mit seinem Volkswagen, um uns abzuholen.
    Kaum saßen wir im Auto, sagte der Onkel: »Habt ihr schon gehört?«
    »Was?«
    »Der Russe ist in der Tschechei einmarschiert.«
    Nie werde ich die Stille vergessen, die entstand, und die Frage meiner Mutter in diese Stille hinein: »Gibt es jetzt Krieg?«
    Und das erneute Schweigen.
    Die Antwort meines Vaters: »Tja …«
    Einmal, bei der Bundeswehr, das muss 1975 gewesen sein, wurden wir nachts mit Alarm-Rufen aus dem Schlaf gescheucht. Wir schlüpften in unsere Kampfanzüge, rannten auf den dunklen, kalten Kasernenhof und traten in Reih und Glied an.
    Ein Oberfeldwebel baute sich vor uns auf. Seine Zunge war ein wenig schwer, aber das bemerkte ich nicht gleich, und wenn ich es bemerkt hätte … Warum hätte sie auch nicht schwer sein sollen? Es war ja mitten in der Nacht.
    Der Oberfeldwebel schrie.
    »Männer!«, schrie er, »der Russe« sei vor zwei Stunden wieder, wie schon 1968, »in die Tschechei« einmarschiert. Wir hätten Befehl, unsere Panzer gefechtsbereit zu machen. Und wir würden nun, bevor wir abmarschierten, scharfe Munition aufnehmen, dann unsere Verfügungsräume beziehen.
    Der Ernstfall sei da.
    Ungefähr eine halbe Stunde lang hatte ich Angst, dass nun auch ich einen Krieg erleben würde, einen Weltkrieg, so wie mein Großvater und mein Vater Weltkriege erlebt hatten. Ich zitterte und wusste nicht, wie ich dieser Angst Herr werden sollte, mitten in der Nacht, mit dem Panzer in irgendeinen Wald zu fahren, die Bunker voller Munition, die wir würden verschießen müssen, irgendwann auf irgendwen, und ich konnte nicht mal meine Eltern noch anrufen vorher.
    Nach dieser halben Stunde mussten wir wieder in Reih und Glied antreten. Der Oberfeldwebel trat vor uns hin und schrie: »Alarm-Ende!« Und nun erst fiel mir auf, wie schwer ihm das »Allllarm« von der Zunge kam. Die Unteroffiziere hatten getrunken. Dann hatten sie sich einen Spaß gemacht.
    Im Jahr 1984 war ich zum ersten Mal auf einer Lesereise, ich hatte ein Buch über einen jungen Rechtsterroristen geschrieben. In den großen Städten, in Wien und München zum Beispiel, war das Echo noch ganz erfreulich, in der deutschen Provinz aber machte ich eine niederschmetternde Erfahrung: Kaum jemand wollte mir zuhören. In Pforzheim saßen nur acht Leute vor mir, die Buchhandlung

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