Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wofür stehst Du?

Wofür stehst Du?

Titel: Wofür stehst Du? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giovanni di Lorenzo Axel Hacke
Vom Netzwerk:
schon lange nicht mehr gesehen hatte. Ich wollte mich während dieser Reise meiner Wurzeln vergewissern, aber als ich zurückkam, lag der Mythos der italienischen Familie in Trümmern.
    Meine Großmutter, die selbst von ihren Nachbarn noch wie eine Heilige verehrt worden war, war vor meiner Geburt gestorben, und mein Großvater verliebte sich in eine sehr junge Arbeiterin aus seiner Fabrik. Sie hieß Fernanda und entstammte einer armen Familie mit zehn Kindern. Ihre Mutter, Nonna Rosa, ließ sich von ihren Kindern im Pluralis majestatis ansprechen; das war in Italien bis weit ins vergangene Jahrhundert hinein kein Kennzeichen des Adels,sondern der einfachen Bauern. Nonna Rosa war im Krieg zur Witwe geworden, manchmal fehlte ihr sogar das Geld, um allen Schuhe zu kaufen; dann mussten ihre Söhne und Töchter barfuß laufen. Die Zuneigung meines Opas zu Fernanda war so groß, dass er beschloss, bei Nonna Rosa um die Hand ihrer Tochter anzuhalten. Er tat das heimlich, weil er die Ablehnung seiner Kinder, meines Vaters und seiner zwei Brüder, fürchtete – was die Sache natürlich nur noch schlimmer machte. Seine Söhne empfanden diese Liaison als Verrat an ihrer Mutter, und für sie war auch klar, dass die junge Fernanda sich nur wegen der Aussicht auf Wohlstand auf ihn eingelassen hatte.
    Mit dieser Einschätzung sollten sie ihr schwer unrecht tun, denn die Ehe erwies sich als glücklich, und Fernanda ist eine so liebenswürdige Person, dass ich sie ganz selbstverständlich als meine italienische Oma annahm. Dennoch entbrannte zwischen meinem Opa und seinen Söhnen ein Jahrzehnte andauernder, erbittert geführter Streit, den die Brüder nach dem Tod des Großvaters wegen der Erbschaft mit der jungen Witwe fortführten. Der Rest der Verwandtschaft nannte die drei scherzhaft die »Brüder Karamasow«, aber die immer wieder aufflackernde Feindschaft war auch für uns Kinder alles andere als lustig. Wenn es bei Tisch zu einem Ausbruch kam, trugen die Frauen uns Kinder aus dem Esszimmer und versuchten, uns vom Streit fernzuhalten. Selbst durch mehrere Türen hörten wir die dumpfen Schreie der Brüder und ihres Vaters.
    Onkel Paolo, der Jüngste der drei, reagierte stets am heftigsten. Er warauch derjenige, der sich am meisten verletzt fühlte. Wir Kinder liebten ihn sehr: Onkel Paolo war großzügig, und er war für uns schon wegen seines Alters eher ein Komplize denn ein Onkel. Er ließ mich heimlich und helmlos auf seiner Vespa mitfahren, und zu Weihnachten schenkte er mir, zum Entzücken meiner Eltern, mal einen Sandsack samt Boxhandschuhen, mal ein Luftgewehr. Er war ein bildschöner junger Mann, ein Draufgänger mit großer Ausstrahlung. Sein Leben aber bekam Paolo nicht in den Griff, auch im Beruf fand er keinen Halt. Mit meinem Opa war er so zerstritten, dass eine Beschäftigung im Familienunternehmen bald ausgeschlossen war. Die Beziehung war vergiftet, Anfang der Siebzigerjahre wurde er von meinem Opa enterbt.
    Eines Tages fanden sie Paolo tot auf dem Dachboden im Haus meiner Großeltern. Er hatte sich mit dem Jagdgewehr eine Kugel durch den Kopf geschossen, vor einem Tisch, auf dem die Urkunde lag, mit der mein Opa seine Enterbung verfügt hatte. Knapp zwei Jahre später starb auch mein Großvater. Er war wegen eines Herzinfarkts ins Krankenhaus von Cesena gebracht worden, und als die Ärzte den Infarkt gerade einigermaßen unter Kontrolle gebracht hatten, erlitt er auch noch einen Darmdurchbruch. Der Chefarzt sagte zu meinem Vater: »Es ist merkwürdig, aber sein Körper wirkt wie der eines Menschen, der nicht mehr leben will.«
    Danach kamen zumindest wir Jüngeren uns vor wie Überlebende, und ich hatte schon sehr bald das Gefühl, als liege ein Fluch über unserer Familie. Die Ehe meiner Eltern war auseinandergegangen, die Ehe meinesOnkels Giorgio auch; bei meiner Cousine brach daraufhin eine unheilbare Psychose aus. Die beiden wunderbaren Töchter, die mein Großvater noch mit Fernanda gezeugt hatte, sind bis heute unverheiratet und kinderlos geblieben. Eine von ihnen lebt in einer inzwischen vom elterlichen Haus abgetrennten Wohnung. In ihrem Schlafzimmer hatten meine Eltern gelebt, nachdem sie nach Rimini gezogen waren, und danach Onkel Paolo. Wenn die Tochter meines Opas heute aus dem Fenster schaut, blickt sie auf drei mehrstöckige Mietshäuser. Früher war da noch ein parkähnlicher Garten mit hohen Pinien und einem Brunnen mit Zierfischen. Dahinter lag das Fabrikgelände, das für uns Kinder wie ein

Weitere Kostenlose Bücher