Wofür stehst Du?
einen Comicstrip. Auf dem Marmorboden des Saales fuhren wir Gokart, und bei Familienfeiern schlichen wir uns gerne an betagte Aristokratinnen heran und schlürften, ohne dass sie es bemerkten, ihre Aperitifs aus, die sie, sitzend in Konversation vertieft, auf idealer Kindeshöhe vor sich herhielten; die Wirkung, so berichteten es die Erwachsenen noch Jahrzehnte später, sei verheerend gewesen.
Fast alles, was im Leben der Donn’Anna schön und wichtig war, hatte sich noch im vorvergangenen Jahrhundert abgespielt, vor allem ihre Hochzeit und die Geburt ihrer Tochter, meiner Tante Giulia. Ihr Großvater, an den sie sich noch gut erinnerte, war um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zur Welt gekommen, als Napoleon gerade gegen den römischen Kirchenstaat zu Felde zog . Als Zeitzeuge hatte er die Abdankungdes französischen Kaisers, dessen Verbannung nach Elba und St. Helena erlebt und davon erzählt. Mir ist das erst später klar geworden: Ich bin noch einer Tante begegnet, die sich an die Erzählungen ihres Großvaters über Napoleon Bonaparte erinnern konnte. Diese Zeitspanne umfasst inzwischen mehr als zwei Jahrhunderte überlieferter Familiengeschichte. Sie ist ein Teil von uns geworden, auch wenn sie mir nur selten bewusst wird.
Donn’Anna hatte auch Furchtbares erlebt: Krankheiten und Epidemien, gegen die es kein Mittel gab, zwei Kriege, den Tod ihres Ehemannes. Der war in der Nähe seines Palazzo von einem Artilleriegeschütz getroffen worden – dem einzigen, das während des Zweiten Weltkrieges auf sein beschauliches Dorf abgefeuert worden war. Er starb, weil er sich vor einen anderen Mann warf, um ihn zu retten.
Bestimmt hat also auch ihre Generation, wie jede andere zuvor, Gründe gehabt, den Untergang der Menschheit zu befürchten. Aber mir kommt es heute noch so vor, als ob Donn’Anna sich auch auf ein paar Gewissheiten verlassen konnte. Sie sagte: »Das Leben ist so. Es gibt dir etwas, und es nimmt dir wieder etwas weg.«
Allerdings schaute Donn’Anna mit Sorge auf ihre Tochter Giulia. Auch sie wurde steinalt, erlebte fast das gesamte vergangene Jahrhundert. Aber ihr Leben ist auch ein Spiegel der Moderne, ihrer Chancen, ihrer Freiheiten und ihrer Rastlosigkeit. Giulia hatte als Erste in ihrer Familie studiert, sie hatte unehelich meine Tante Silvia geboren, sie hatte bis zu ihrerPensionierung als Direktorin der Abteilung für Grafiken und Zeichnungen der Uffizien gearbeitet. Als sie schon die sechzig überschritten hatte, begann sie eine Ausbildung zur Psychoanalytikerin, unter ihren Lehrern war Marie-Louise von Franz, eine Lieblingsschülerin C.G. Jungs. Als sie neunzig wurde, hatte sie noch Patienten. Für uns Jüngere war sie deshalb schon zu Lebzeiten ein Mythos geworden. Aber die Schicksalsschläge ihres Lebens und der große Schmerz, darüber klagte ihre Mutter Donn’Anna, die fraßen sich über Jahre hinweg durch ihre Seele und ihren Körper und quälten sie wie ewige Geißeln.
Einmal hörte ich Donn’Anna zu meinem Vater sagen: »Manchmal verstehe ich meine eigene Tochter nicht. Ich habe die schwersten Schicksalsschläge innerhalb von drei Tagen überwunden; es ging doch immer irgendwie weiter!«
Wenn ich heute an Donn’Anna denke, dann kommt noch ein anderer, ein kurioser Gedanke in mir hoch, der dazu führt, dass ich mich selbst sehr alt fühle. Ich habe noch eine Zeit erlebt, in der es Telefonzellen gab. Ich habe sie nicht nur gelegentlich benutzt, ich war eine ganze Weile auf sie angewiesen. Als ich mit 18 zu Hause auszog, hatte ich in meiner Wohnung zunächst keinen Fernsprechanschluss. Wenn ich telefonieren wollte, suchte ich mir eine ganze Batterie Groschen zusammen, schnappte mir eine Liste mit den Nummern der Menschen, die ich erreichen wollte, und ging in die gelbe Zelle, die meinem Haus schräggegenüberlag. Meistens war sie belegt, sodass ich warten musste. Und wenn ich dann an der Reihe war, unterbrach ich meine Anrufe des Öfteren, weil es mich nervös machte, wenn von draußen jemand böse in die Kabine starrte. Auf diese Weise war ich an manchen Tagen mehrere Stunden beschäftigt.
In meiner Kindheit waren die modernsten Kommunikationsmittel in unserem Haus ein großes schwarzes Telefon mit einer Wählscheibe (vor dessen Benutzung wir die Eltern fragen mussten, aus Kostengründen) und ein Radio mit einem grünen Auge, das langsam zu leuchten begann, wenn man den Apparat anschaltete. In den Stationszeilen las ich: Hilversum, Caltanissetta, Budapest, Wien … Das Radio
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