Wofür stehst Du?
Abenteuerspielplatz war. Das gesamte Gelände wurde verkauft, um das Erbe aufzuteilen. Von der stolzen Wollfabrik ist nur noch ein Handelsbetrieb übrig geblieben, den Fernandas Töchter führen.
Auch die Geschwister meiner Mutter in Deutschland fanden kein Familienglück. Die Ehe von Onkel Stefan, der Maler hatte werden wollen, ging ebenso in die Brüche wie die seiner jüngeren Schwester.
Es war unausweichlich, dass ich anfing, meinen Eltern Vorhaltungen zu machen: Was für eine Bürde habt ihr uns fürs Leben mitgegeben! Diese Angst, all jene Fehler zu wiederholen, die wir vorgelebt bekommen hatten. Der lähmende Imperativ, den eigenen Kindern bloß die Schmerzen zu ersparen, die wir selbst erlitten hatten. Jedenfalls kann ich überhaupt nicht verstehen, wenn man heute Zwanzig- bis Dreißigjährige belächelt, weil sie bekennen, dass ihnen die Familie der wichtigsteWert ist. Als ob darin etwas Biederes, ja, Verzagtes läge. Zu viele aus dieser Generation haben am eigenen Leib erfahren, was es heißt, wenn eine Familie kaputtgeht. Für diese Menschen sind stabile Bindungen eine der schwierigsten Aufgaben, die man sich vorstellen kann.
Ich habe erst sehr spät in meinem Leben eine Familie gegründet. Als meine Tochter in einer Dorfkirche in der Toscana getauft wurde, kamen fast alle Überlebenden meiner italienischen Verwandtschaft. Bei der Kommunion fiel mir auf, dass die gesamte jüngere Generation der Cousins und Cousinen aufstand, um die Hostie zu empfangen. Unsere Eltern blieben, weit hinten in der Kirche, allesamt sitzen – und wunderten sich, was wohl in ihre Kinder gefahren war.
Als ich zwanzig war, bin ich vor meiner Familie geflüchtet, so weit, wie es weiter kaum geht in Deutschland, von Braunschweig nach München. Ich hatte eine intensive, jedoch diffuse, mir im Grunde gar nicht richtig bewusste Sehnsucht nach frischer Luft, ich wollte raus aus der kleinbürgerlichen Welt von Onkels und Tanten, die nahezu jedes zweite Wochenende in immer gleicher Runde und unter Wiederholung der immer gleichen Geschichten bei Kaffee und Kuchen ihre Geburtstage feierten, und ich konnte die Kneipen nicht mehr ertragen, in denen meine Kumpels und ich uns am Wochenende betranken.
Dennoch war ich ein braver Sohn. Ich studierte, machte Examen, suchte mir einen Job, verliebte mich hier und daund heiratete früh – ohne es den Eltern vorher zu sagen. Wir gingen einfach mit zwei Trauzeugen zum Standesamt und riefen dann daheim an.
Mit 28 wurde ich zum ersten Mal Vater, mit 30 zum zweiten Mal. Als ich 37 war, wurden wir geschieden. Mein Selbst- und Weltbild war kaputt. Eines Abends in den Jahren nach unserer Trennung kehrte ich mit meinen Eltern nach einer Familienfeier in meine Wohnung zurück. Meine frühere Ehefrau und ich haben uns ein gutes Verhältnis bewahrt, vertrauen einander und hatten an diesem Tag alle zusammen in unserem früher gemeinsamen Haus gefeiert. Aber nun saß ich wieder in meiner Wohnung, mit meinen Eltern, doch ohne die Kinder, konnte mich nicht mehr zusammenreißen und weinte nur noch vor mich hin. Meine Mutter stimmte ein und heulte mit mir in der Küche, mein Vater erstarrte schweigend in Ratlosigkeit, im Wohnzimmer sitzend. Später saßen wir doch alle zusammen, und ganz plötzlich, ohne dass ich danach gefragt hätte, erzählte mir meine Mutter die Geschichte ihrer Kindheit, die sie nie zuvor erzählt hatte.
Ihre Mutter war die zweite Frau eines Mannes gewesen, der Gutsverwalter und Förster von Beruf war, meines Großvaters. Aber die beiden verstanden sich nicht, der Mann (mein Großvater) sei nicht gut zu ihrer Mutter (meiner Großmutter) gewesen, sagte meine Mutter, die das aber auch nur vom Hörensagen wusste, denn sie war erst zwei Jahre alt gewesen, als die beiden sich trennten.
Diese Trennung verlief so, dass mein Urgroßvater, der Großvater meiner Mutter, mit Pferd und Wagen vor dem Hausmeines Großvaters vorfuhr, seine Tochter und seine Enkelin (meine spätere Mutter) und deren Habseligkeiten mitnahm und sie zu Verwandten in eine andere Stadt brachte, wo die beiden blieben. Meine Mutter wuchs dort glücklich auf, in einem großen Kreis von Tanten und Kusinen, die sie sehr liebten, aber ihren Vater sah sie erst viele Jahre später wieder, bei einer großen Feier während der Nazizeit. Da stand er auf einem Podium, weit entfernt, und die Mutter zeigte auf ihn und sagte zur Tochter: »Der Mann dort, das ist dein Vater.«
Das war alles. Und erst als meine Mutter längst selbst Kinder
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