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Wofür stehst Du?

Wofür stehst Du?

Titel: Wofür stehst Du? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giovanni di Lorenzo Axel Hacke
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war ein Wunder für mich. Wenn aus ihm Musik ertönte, dachte ich anfangs, das Orchester müsse sich im Apparat befinden. Später ging ich zum Glauben über, dieses Orchester beginne just in dem Moment zu spielen, in dem ich das Radio andrehte, nur für mich. Von Schallplatten wusste ich nichts, ich lernte sie erst später bei einer Großtante kennen, die uns Kindern auf unseren Wunsch wieder und wieder Gus Backus’ Schlager vom Mann im Mond vorspielte. An dessen Beginn war ein Raketenstart zu hören, später der Refrain:
    »Der Mann im Mond,
der hat es schwer,’
denn man verschont
ihn heut’ nicht mehr.
Er schaut uns bang’
von oben zu
und fragt: Wie lang’
hab’ ich noch Ruh?«
    In der Schule und an der Universität tippten wir unsere Flugblätter auf Spiritus-Matrizen und hektografierten sie dann mithilfe einer Walze auf Papier. Als ich in der Zeitung zu arbeiten begann, schrieben wir unsere Texte mit klappernden Schreibmaschinen auf gelbes Papier, steckten sie in eine Rohrpost und schickten sie in die Setzerei, wo ein Mann an einer drei Meter hohen Maschine sie erneut abtippte. Glühend heiße Bleizeilen sammelten sich, ein Metteur mit blauer Schürze baute sie nach dem Erkalten zu Artikel und Seiten zusammen, von denen dann eine Vorform für eine Druckvorlage genommen wurde. Saß ich im Stadion, um über ein Fußballspiel zu berichten, musste ich schon während der Begegnung einem Stenografen meinen Bericht am Telefon diktieren, der ihn seinerseits wieder abtippte, um ihn dann einem Redakteur zu schicken, der ihn einem Setzer schickte, der …
    Und alles, was diese Männer in vielen Stunden taten, erledigen heute Computer in Sekunden.
    Vielleicht kaufe ich mir ein iPad , einen kleinen, flachen, rechteckigen Computer. Wenn ich will, kann ich dann so ziemlich jeden Film, den ich gerne sehen möchte, auf diesem Apparat innerhalb von ein paar Minuten ansehen; ich muss dazu nur ein paar Mal mit dem Finger auf dem Gerät herumwischen – schon passiert’s.Auch hätte ich fast jedes Buch, das mir gerade einfällt, im gleichen Zeitraum zur Hand, und wenn sich mir eine Frage stellen würde, so stellte ich sie meinerseits dem Gerät, das aus den Weiten des Internets eine Antwort herbeischaffte.
    Wie weit sind wir noch entfernt von einem Apparat, der nebenbei auch noch Kaffee kocht und Toast auswirft, auf dem stehend ich ins Büro flitzen kann wie auf einem Luftkissen-Skateboard oder den ich mir auf den Bauch legen kann, um meine Magenbeschwerden zu heilen, von der jeden Wunsch sofort erfüllenden Allesmaschine?
    Unsere Lust am Weltuntergang hat wahrscheinlich viel mit Beschleunigung zu tun. Mit der unvorstellbar schnellen Entwicklung der Technik und unseres Lebens, mit dem unweigerlich daraus erwachsenden Gefühl, dass keine Leitplanke mehr richtig hält. Kann es sein, dass der Untergang in dieser Situation manchmal wie eine Erlösung erscheint? So wie es mancher Hochstapler als Erleichterung empfindet, wenn er, am Ende einer langen Kette von Täuschungen und Lügen, einen irrationalen Fehler begeht und auffliegt – so als habe ihm eine innere Stimme eingeflüstert, endlich diesen einen, entscheidenden Fehler zu begehen, um dem Irrsinn seines Systems Einhalt zu gebieten?
    Aber sind wir nicht an einem Punkt, an dem wir mit den Ängsten in unserem Leben besser umgehen sollten? Wenn keine der apokalyptischen Visionen, mit denen wir uns in mehr als fünfzig Lebensjahrenherumgeplagt haben, Realität geworden ist, dann sollten wir neue Untergangs-Szenarien endlich anders als bisherige sehen. Und darauf vertrauen, dass der Mensch extrem anpassungsfähig, äußerst intelligent und sehr zäh sein kann, dass die Menschheit in ihrer Geschichte schon sehr heftige Temperaturschwankungen auf der Erde überstanden hat (dies mit sehr viel geringeren technischen Möglichkeiten als heute) und dass die Zukunft noch nie eine lineare Fortschreibung der Gegenwart gewesen ist.
    Aber wahr ist trotzdem auch: Es ist unsere Generation, die ein System schaffen muss, in dem nicht mehr haltlos aus dem Vollen geschöpft wird und in dem Nachhaltigkeit zu den wichtigsten Werten gehört.
    Als ich im Sommer 1990 als Reporter nach Bitterfeld reiste, hatte ich natürlich Monika Marons Roman Flugasche im Gepäck, in dem es Sätze gibt wie diese: »Dünste, die als Wegweiser dienen könnten. Bitte gehen Sie geradeaus bis zum Ammoniak, dann links bis zur Salpetersäure. Wenn Sie einen stechenden Schmerz in Hals und Bronchien verspüren, kehren Sie um

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