Wofür stehst Du?
und rufen den Arzt, das war dann Schwefeldioxyd.« Maron hatte, bevor sie den Roman verfasste, für die Wochenpost in Ost-Berlin eine Reportage über Bitterfeld geschrieben, das Zentrum der DDR-Chemieindustrie.
Nun sah ich selbst, was hier los war, eine bisweilen tatsächlich nahezu apokalyptische Szenerie in der dreckigsten Region Europas: breite Bäche voll brauner, von weißem Schaum überzogener Flüssigkeit, deren Gestankeinem den Atem stocken ließ. Der »Silbersee«, dessen Wasser aussah, als könne man in ihm Filme entwickeln, Baum-Leichen standen darin. Im Kindergarten traf ich eine Erzieherin, die erzählte, es habe Tage gegeben, an denen blaue und rote Farbe vom Himmel fiel. Wenig später hätten die Kinder Ekzeme bekommen.
2010 las ich Monika Marons zweites Buch über die Stadt. Bitterfelder Bogen heißt es und ist kein Roman, sondern ein Bericht über die Wiederauferstehung einer toten Region, vor allem über die Gründung und den Erfolg des Solarzellenherstellers Q-Cells , der 2010 in Bitterfeld und Umgebung fast 2000 Menschen beschäftigte, wie viele Unternehmen von den Folgen der Finanzkrise geschüttelt wird und dennoch eine geradezu unglaubliche Geschichte von Fantasie und Fleiß ist, an deren Erzählung Maron die Frage knüpft, warum in zwanzig Jahren immer nur die DDR-Nostalgiker, PDS-Wähler und Rechtsradikalen das Bild von der Bevölkerung in den neuen Ländern geprägt hätten, »als hätte es die Wagemutigen, die Zähen und Erfinderischen nicht gegeben, als wären nicht Hunderttausende klaglos jahrelang nach Bayern und Baden-Württemberg gependelt oder hätten nach jeder Pleite ihres Arbeitgebers unermüdlich nach einem neuen gesucht«.
Wie war es möglich, dass der Ostdeutsche wie eine Standardfigur der Commedia dell’Arte »als geprellter, unselbstständiger, seinen Unmut stammelnder Zeitgenosse« durch die Medien geisterte, dass das Bild eines Volks von »antriebsschwachen, obrigkeitshörigen Sozialfällen« gezeichnet wurde, so lange, bis die Ostdeutschen es selbst glaubten?
Wichtiger aber ist hier das Bild Marons vom heutigen Bitterfeld, über das sie nun in ihrem Buch notierte: »… eine unerwartet schöne Seenlandschaft in einem Naturschutzgebiet von zweiundsechzig Quadratkilometern, mit Rad- und Wanderwegen, Strandbädern und Uferpromenade, mit einer bunt wuchernden Flora, in der sich Hirsche, Biber, Salamander, Fischadler, Kraniche und Kormorane angesiedelt haben, mit einem Hafen, in dem Segelboote ankern und von dem das Motorschiff ›Vineta‹ in See sticht, ins Bitterfelder Meer, wie man in überschäumender Begeisterung den unverhofften Seenreichtum gleich getauft hat.«
Nur wenige Hundert Meter von dem Haus, in dem ich aufwuchs, befand sich die Müllhalde der Stadt. Sie war einer unserer Spielplätze, wir sammelten uns dort, um aus großen alten Pappkartons Häuser, ja, ganze Dörfer zu bauen, in denen wir uns mit anderen Müllgegenständen einrichteten und gemütlich Picknick machten. Überall im Wald neben der Halde lag Müll, die Leute warfen Bauschutt, Matratzen oder alte Maschinen oft einfach in den Straßengraben, ein großes Problem damals. Im Fluss, der die Stadt durchquerte, war es nicht möglich zu baden, man konnte auch nicht auf ihm Boot fahren, denn einerseits war oft zu wenig Wasser darin, andererseits stank dieses Wasser meistens so erbärmlich und war so schmutzig, dass es kaum zu ertragen war. In diesem Wasser gab es keinen einzigen Fisch mehr, weil bei der Silbergewinnung in den Bergwerken im Harz das Gift Vitriol angefallen und in den Fluss geleitet worden war.
Aus der Müllhalde ist aber schon vor langer Zeit ein Park mit einem See geworden, und niemand käme noch auf die Idee, dort seinen Dreck zu entsorgen. Und der Fluss ist die reine Idylle, man kann in ihm baden und auf ihm Boot fahren, es gibt Fischtreppen, Floßfahrten mit Lesungen, Jazzkonzerte am Ufer, ja, man setzt hier im Wasser wieder Jahr für Jahr junge Atlantische Lachse und Meerforellen aus, in der Hoffnung, dass sie eines Tages aus dem Meer wieder in ihre (und meine) Heimat zurückkehren, um dort zu laichen.
[Menü]
Meine Eroberung der Familie
oder
Wie ich in den Kreißsaal fand und wieder heraus
Man kann meinen wunderbaren, dicken Großvater aus Rimini auch anders beschreiben, als ich es, von meinen Kindheitserinnerungen ausgehend, getan habe. Ich war 18, gerade der Pubertät entwachsen, als ich von Hannover aus zu einer Rundreise zu meinen Verwandten in Italien aufbrach, die ich
Weitere Kostenlose Bücher