Wofür stehst Du?
es nicht.«
Was es genau war, wollte sie nicht erklären, erst als ich massiv nachhakte, nannte sie den Grund ihrer Besorgnis. Ich konnte es zunächst nicht fassen: Das Kind, sagte sie, könnte doch im fremden Bett unter Kissen ersticken. An diesem Abend hatten wir darüber noch heftigen Streit, ein paar Tage später aber, die junge Frau hatte schon zum zweiten Mal abends bei uns eingehütet, kam mir dieser Wahnsinn schon fast normal vor.
Spätestens nach diesem Urlaub war mir klar: Wir waren nicht besser als die Eltern, über die wir uns früher lustig gemacht hatten, und unsere Tochter würde uns eines Tages Vorhaltungen machen, wie unmöglich, wie übervorsichtig wir sie erzogen hätten.
Ich finde es übrigens sehr verständlich, Angst um sein Kind zu haben, zumal wenn es klein ist, man es zum ersten Mal allein lässt und sich von ihm entfernt, und sei es nur einige Hundert Meter. Ich finde da auch noch eher absurde Ängste ziemlich normal. Die Frage ist einfach, wie man mit ihnen umgeht.
Ich habe Tag für Tag Angst um meine Kinder, ja, ich würde sagen, mit den Kindern ist Angst ein immer präsenter Faktor in meinem Leben geworden, ein Bewusstsein für die Zerbrechlichkeit unserer Existenz. Eines meiner Kinder wäre einmal bei einem Unfall beinahe ums Leben gekommen, wochenlang mussten wir bangen. Und ich kenne Paare, die ein Kind verloren haben, ein größeres Unglück ist schwer denkbar.
Immer wieder versuche ich, mir die Gefühle unserer Eltern vorzustellen, als wir Kinder waren.
Wir hatten eine Kindheit, wie sie heute die Ausnahme ist: Wir verbrachten den größten Teil unserer Zeit unbeaufsichtigt. Nie sah ich einen Kindergarten von innen, bevor ich meine eigenen Kinder dorthin brachte. Wir spielten im Wald, in dem alte, noch scharfe Bomben aus dem Krieg im Erdreich lagen. Wir hatten einen Schulweg, der uns durch diesen Wald führte und den wir bisweilen mit Schauermärchen im Kopf gingen, über Selbstmörder, die – so hatten uns ältere Kameraden erzählt – an irgendeinem Baum hängen sollten. Wir rasten im Winter ohne Helm und Rückenschutz auf blankem Eis mit unter die Winterstiefel geschnallten Gleitschuhen die Hügel hinunter. Wir schlichen, wenn es im Herbst dunkel geworden war, durch die Gärten der Nachbarn und betrachteten die Leute in ihren Küchen und Esszimmern beim Abendessen; einmal wurden wir entdeckt, es gab entsetzlichen Ärger. Wir hatten untereinander Schlägereien, die nicht selten mit blauen Augen, blutenden Nasen und Tränen endeten. Und ich bin mit vier Jahren, als ich allein mit einem Freund auf der Straße spielte, von einem Motorroller überfahren worden, brach mir den Arm und riss mir die Stirn auf. Wenig späterertrank ich beinahe im Teich auf dem Hof meines Onkels. Mein Vater zog mich erst in letzter Sekunde aus dem Wasser.
Wir taten Tag für Tag Dinge, die wir unseren Kindern heute nicht im Geringsten erlauben würden.
Freilich war das nicht Ausdruck eines pädagogischen Konzepts unserer Eltern. Es war einfach so. Aber warum?
Erstens : Wir waren keine Einzelkinder. Wer mehrere Kinder hat, ist nicht so fixiert auf jedes einzelne, nicht so besorgt darum.
Zweitens : Unsere Eltern stammten noch aus einer Zeit, in der es nicht selten vorkam, dass Kinder starben, sie empfanden das als Teil des Lebensrisikos.
Drittens : Wir haben überhaupt mehr Angst als unsere Eltern. Wir fürchten, den ererbten und erarbeiteten Wohlstand zu verlieren, wir sind uns unserer Jobs nicht so sicher wie unsere Eltern, die Zukunft erscheint uns ungleich fragiler – und wir haben nie etwas anderes erlebt als ein Leben in materieller Saturiertheit, während unsere Eltern den Verlust allen Hab und Guts schon einmal hinter sich hatten, es ging danach immer aufwärts für sie.
Viertens : Anders als unsere Eltern sind wir uns unserer Haltungen und unserer Einstellung gegenüber den Kindern nicht sicher. Sie hatten damals sehr klare Vorstellungen davon, was Kindern guttut und was nicht, wie Kinder aufwachsen sollten und wie nicht, sie hatten diese Vorstellungen von ihren Eltern übernommen, die sie wiederum von ihren Eltern ererbt hatten.
Fünftens erinnere ich mich an eine Szene von einem meiner ersten Schulwege, in der ersten Klasse. Ich ging zusammen mit einem Kameraden morgens diesen Weg.Bis zum Tag zuvor hatte meine Mutter mich in die Schule gebracht, nun durften wir alleine gehen, wir redeten und lachten, als auf einmal mein Kamerad sagte: »Deine Mutter geht hinter uns.« Ich drehte mich
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