Wofür stehst Du?
Sicherheit nicht mit 65 oder gar früher in Rente gehen können, weil ich kaum eine Rente bekommen werde. Ich habe, nebenbei gesagt, nur selten Achtstundentage, sondern arbeite oft bedeutend länger. Und ich zahle so viel Steuern, dass von diesem Geld einige Staatsangestellte leben können; also bin ich nicht der Einzige, der davon profitiert, dass ich gut verdiene.
Im Übrigen kann mein Erfolg schon im nächsten Jahr beendet sein. Es könnte sein, dass wir dann bedeutend bescheidener leben müssen. Die neurotische Angst, mir könnte ab morgen kein einziger vernünftiger Text mehr einfallen, lässt mich gelegentlich nachts in einem schweißnassen Pyjama aufwachen.
Risiken hat allerdings ein Arbeiter auch: Man kann ihn entlassen oder er muss kurzarbeiten. Er kann sein Schicksal viel weniger beeinflussen als ich, weil es von den Entscheidungen einiger Manager abhängt, die er oft nicht einmal kennt. Ich hingegen lebe im Gefühl, mein Leben selbst bestimmen zu können. Das ist viel wert. Und ich tue – was man auch nicht von jedem Berufstätigen sagen kann – meine Arbeit in der Regel richtig gern.
Nein, es ist nicht gerecht, dass ich so viel mehr Geld bekomme als jede Krankenschwester oder jeder Busfahrer. Aber es ist auch nicht gerecht, dass ich sehr (sehr!) viel weniger verdiene als der Fußballspieler Franck Ribéry. Obwohl es mir gut gefällt, dass einer mit seinem Herkommen es schafft, ein reicher Mann zuwerden, nur mit dem, was er so gut kann wie wenige andere.
Es ist auch nicht gerecht, dass es mir wahrscheinlich nie gelingen wird, mit meiner Kopfarbeit ein Vermögen zusammenzutragen wie mancher Vorstandsvorsitzende, der nach einigen Jahren mittelmäßiger bis miserabler Arbeit aus einem laufenden Vertrag entlassen wird und sich dann, wenn er will oder keinen Job mehr findet, auf den Golfplätzen der Welt tummeln kann, während das Geld aus seiner Abfindung auf dem Konto für ihn arbeitet, das alles, weil eine Managerkaste sich risikolos gegenseitig selbst absichert.
Und es ist sogar schreiend ungerecht, dass ich in meinen Jahren als Zeitungsredakteur das Vermögen einiger Zeitungsverleger vergrößert habe, die sich ihre Unternehmensanteile nicht einmal erarbeitet, sondern sie nur von ihren Vätern geerbt hatten.
Alles ist ungerecht, ungerecht, ungerecht.
Ist es nicht übrigens sogar ungerecht, dass ein Arbeitsloser in Deutschland, ohne einen Finger zu rühren, sehr viel besser leben kann als ein Migrant aus dem Senegal, der sich unter unfassbar großen Entbehrungen und bei größter Lebensgefahr bis nach Italien oder Deutschland durchgeschlagen hat? Wobei es übrigens auch nicht gerecht ist, dass die Familie dieses Mannes in Afrika ihr Geld für ihn gespart und zusammengelegt hat – und nicht für einen anderen, seinen Bruder vielleicht, der deshalb im Senegal bleiben musste, weil das Geld nur für die Wanderschaft des einen reichte. Und im Grunde fängt die Ungerechtigkeit vielleicht schon damit an, dass die Natur den einen Bruder mit einer sehr viel robusteren Gesundheit und sehrviel größeren geistigen Gaben ausgestattet hat als den anderen.
Aber so gesehen ist es schließlich sogar ungerecht, dass der Braunbär in Kanada mit leichter Tatze Lachse aus dem Fluss angeln kann, während der Eisbär in der Arktis unter unwirtlichsten Bedingungen gegen das Aussterben ankämpfen muss.
Wir halten fest, erstens : Die Welt ist von vorneherein immer ungerecht, ein Umstand, der wahrscheinlich schon in den Höhlen der Neandertaler erörtert worden ist, für den Sokrates und Thrasymachos in ihrem von Platon in der Politeia geschilderten Streit keine Lösung fanden, und dem der moderne Klassiker der Gerechtigkeitstheorie, der Amerikaner John Rawls, vor vierzig Jahren sein Hauptwerk widmete: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Wer anfängt, sich mit der Frage nach Gerechtigkeit in der Welt auseinanderzusetzen, der öffnet ein Fass ohne Boden, zumal ja, nicht selten, Gerechtigkeit mit Gleichheit verwechselt wird, es aber doch die meisten von uns zutiefst ungerecht fänden, wenn man alle Menschen gleich behandeln würde.
Zweitens : Ob und was man als ungerecht empfindet, ist immer eine Frage des Bezugsrahmens, auch der persönlichen Einstellung.
Drittens wird einem, je länger man über das Thema nachdenkt, immer klarer, dass Gerechtigkeit zwar ein sehr relativer und außerordentlich schwer zu fassender Begriff ist, dass es nichtsdestoweniger aber ohne die Idee der Gerechtigkeit nicht geht, die dabei weniger
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