Wofür stehst Du?
einenZustand als ein Ziel beschreibt. Denn das Wertvollste an der Gerechtigkeit ist nicht ihre schließlich-endliche und ja sowieso nie mögliche Herstellung, sondern das dauernde Streben nach ihr: der immerwährende Versuch, jedem Einzelnen seinen Respekt zu zeigen, indem man ihm gerecht zu werden versucht.
Ich lernte den Unternehmensberater H. kennen, als er gerade in eine Sinnkrise geraten war. Wir waren ungefähr im selben Alter, saßen stundenlang an einem Flughafen fest und kamen ins Reden, das heißt, er holte bald zu einem Monolog aus, es brach aus ihm heraus, als habe er seit Wochen mit niemandem mehr gesprochen.
Er hatte zuletzt ein Familienunternehmen beraten. Die Eigentümer litten unter einem Einbruch der Produktivität und der Rendite, sie wünschten sich ein »Optimierungs- und Restrukturierungskonzept«, versprachen aber, möglichst wenige Mitarbeiter zu entlassen. Sie sagten, das Betriebsklima sei gut, man wolle es nicht allzu sehr belasten.
Es sah nach einem Routineeinsatz aus. Er sprach lange mit den Eigentümern und Geschäftsführern, gemeinsam gingen sie eine lange Liste von Mitarbeitern durch. Zu einigen gaben sie Einschätzungen ab, die H. sich stichwortartig notierte. Danach machte er sich im Betrieb kundig. Zunächst schienen die Mitarbeiter verängstigt zu sein, wenn er mit ihnen sprach. Nach einiger Zeit aber, das war jedenfalls sein Eindruck, gewann er ihr Vertrauen.Es gab langgediente Angestellte, die sich von seiner Arbeit so etwas wie eine Befreiung aus alten Verkrustungen versprachen. Die meisten waren lange dabei, das gehört zur Tradition des Unternehmens, aber gut, das fand er schnell heraus, war das Betriebsklima schon lange nicht mehr.
Dann unterlief ihm ein folgenschwerer Fehler, es war ein Versehen: H. ließ in einem Besprechungsraum Unterlagen liegen – unter anderen die kommentierte Personalliste. Ein Mitarbeiter fand sie und lief damit zum Betriebsrat, der Vorgang wurde im ganzen Haus bekannt.
H. war zu dieser Zeit im Urlaub. Genauer gesagt: Er war gerade mit einem Freund zu einer Expedition durch die große Salzwüste im iranischen Hochland aufgebrochen und nur über Satellitentelefon zu erreichen. Der Geschäftsführer rief ihn aufgebracht an und machte ihm schwere Vorhaltungen. H. solle so schnell wie möglich zurückkehren. Der Unternehmensberater brauchte vier Tage, um wieder einen Flughafen zu erreichen und zurückzufliegen.
Es waren Tage, in denen er sich zunächst Vorwürfe über die professionelle Fehlleistung machte und darüber nachdachte, wem er wohl mit seinen Notizen Schaden zugefügt haben könnte. Dann aber, davon war er selbst am meisten überrascht, wähnte er sich plötzlich selbst als Opfer. Er hatte ja zu diesem Zeitpunkt nur karge Informationen, und seine Fantasie baute sie nun zu einem sinnfressenden Monster auf. Warum war der Geschäftsführer plötzlich so ungehalten?, fragte sich H. Konntees überhaupt sein, dass er Unterlagen vergessen hatte? Roch das nicht alles nach einer bösartigen Intrige gegen ihn selbst, weil er Systemfehler im Unternehmen entdeckt hatte, die den Eigentümern und Geschäftsführern inzwischen bedrohlicher erschienen als den Mitarbeitern, die ursprünglich auf dem Prüfstand gestanden hatten? »Ich fühlte mich an Kriminalfilme erinnert, bei denen der Mann, der vorgab, einen Mord aufzuklären, sich am Ende selbst als Mörder entpuppte.«
H. dachte über den Fall nach und über seine Arbeit als Berater. Und er begann das System zu hassen, in dem er sich bewegte. Nie zuvor, sagte er, habe er sich so einsam gefühlt wie in diesen Tagen.
Dies war aber nur der erste Teil der Geschichte, die H. loswerden wollte, von der er selber sagte, dass sie wie ein Hollywood-Schinken wirke, dramatisch, anrührend, gegen Ende eben auch hoffnungsvoll – und gefährlich nah am Kitsch, aber nur, wenn man sie nicht selbst erlebt habe.
Als H. in das Unternehmen zurückkehrte, musste er sich zunächst den enttäuschten Mitarbeitern stellen. Er sagte ihnen, er habe in seiner Personalliste nur die Beurteilungen der Vorgesetzten übernommen, er selbst habe die Mitarbeiter doch gar nicht persönlich gekannt. Besonders war den Kollegen ein böses Wort aufgestoßen, das H. hinter den Namen einer Frau geschrieben hatte, die die Älteste in ihrem Team war: »Sozialfall«. H. sagte, er wolle sich stellen, er werde mit der Frau persönlich sprechen.
Und so verabredeten sie sich in einem Café in einer Großstadt, der Unternehmensberater und die
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