Wofür stehst Du?
selbstverständlich, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Ich kenne auch unter katholischen Kirchgängern in Deutschland kaum jemanden, der das Recht auf Selbstbestimmung wieder abschaffen wollte. Damals aber, das wurde mir ziemlich schnell klar, fehlte uns Dreißigjährigen etwas sehr Entscheidendes – eine Ahnung davon, was für eine Tragödie eine Abtreibung auslösen kann.
Birgit ließ abtreiben. Ich schickte ihr noch Blumen ins Krankenhaus, auch das so eine Gedankenlosigkeit, die gut gemeint war.
Mit Birgit und ihrem Freund kam es so, wie es meistens in solchen Fällen kommt: Birgit trennte sich von ihm, weil sie sein Zaudern zu Recht auch als Zurückweisung verstanden hatte. Sie suchte mit großem innerem Druck einen neuen Mann. Ihr Freundeskreis schaute zu, wie das Drama seinen Lauf nahm: Eine Liaison nach der anderen ging in die Brüche. Vielleicht lag das gar nicht nur daran, dass sie sich immer in bindungsunfähige Männer verliebte. Vielleicht lag es auch daran, dass der eine oder andere, der es womöglich ernst meinte, zu schnell ihren großen Wunsch nach einer Familie spürte und sich unter Druck gesetzt fühlte.
Inzwischen wohnten Birgit und ich nicht mehr in derselben Stadt, wir trafen uns vor allem bei Geburtstags- und Hochzeitsfeiern gemeinsamer Freunde wieder. Ich ertappte mich dabei, wie ich mir in Gedankenausrechnete, wie alt ihr Kind jetzt wohl sein würde, wenn sie es bekommen hätte. Einmal erzählte ich ihrer besten Freundin davon. Sie schwieg, und ich merkte, dass sie sich genauso schämte wie ich. Die Probleme, die wir während ihrer Schwangerschaft auf Birgit hatten zukommen sehen, wirkten inzwischen so läppisch klein.
Dann endlich lernte Birgit einen Mann kennen, den wir alle für die Traumbesetzung hielten, was vielleicht auch wieder so eine Anmaßung war. Sie mochte ihn sehr, das spürte man – aber Liebe, das war dann doch etwas anderes. Jedenfalls war er zuverlässig und gut situiert, und er kümmerte sich äußerst fürsorglich um Birgit. Schon nach kurzer Zeit bekannte er sich zu einer gemeinsamen Familie.
Aber Birgit wurde nicht schwanger, obgleich sie es, wie ich über ihre Freundin erfuhr, Monat für Monat versuchte. Weil es aber partout nicht klappte, begann sie, ihre Unfruchtbarkeit als Strafe für ihre Abtreibung zu sehen. Als sie mir einmal davon erzählte, versuchte ich es ihr auszureden. Aber eigentlich fühlte ich mich so, als ob mein früheres Verhalten Teil der Schuld sei, die Birgit nun abtragen musste.
Die Jahre vergingen. Birgit und ihr Freund heirateten. Keiner der Freunde und Verwandten, die auf der Hochzeitsfeier eine launige Rede hielten, ging noch auf den Kinderwunsch ein.
Heute wohnen Birgit und ihr Mann in einem Penthouse in einer Großstadt, hoch über dem Wasser. Ihr Mann erzählte mir einmal, dass Birgit sich vehement gegen ein Haus mit Garten gewehrt hatte, das ihnenangeboten worden war. Ein Garten, habe sie gesagt, sei etwas für Familien mit Kindern.
Als meine Tochter zur Welt kam, schickte Birgit mir einen liebevollen Brief und einen Stoffhasen. Ich habe mich bis heute nicht getraut, ihr mein Kind zu zeigen.
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Mein größtes Dilemma: Gerechtigkeit
oder
Was ich verdiene, aber nicht bekomme
Ich bin 54 Jahre alt. Ich verdiene Geld genug, um damit meiner Familie mit vier Kindern ein komfortables Leben zu ermöglichen. Wir wohnen in einer schönen Wohnung, fahren ein gutes Auto, die Kinder können studieren. Manchmal habe ich, wenn ich von einer Lesung nachts aus dem Theater nach Hause fahre, an einem einzigen Abend das Monatsgehalt einer Krankenschwester verdient, an guten Tagen sogar erheblich mehr. Ich kann das oft selbst nicht fassen, staune über diesen Erfolg wie ein Kind und freue mich daran.
Bloß stellt sich mir trotzdem die Frage: Ist das gerecht? Ist es in Ordnung, dass ich so viel mehr verdiene als ein gleichaltriger Bauarbeiter, der noch dazu in meinem Alter vielleicht körperlich bereits abgerackert ist oder sogar krank?
Ich lege mir meine Rechtfertigungen zurecht: Es dauert noch nicht sehr lange, dass ich so viel verdiene, früher war es bedeutend weniger. Ich habe dafür studiert, bin während des Studiums selten in Discothekengewesen, habe immer viel gearbeitet und mir mit allerhand Jobs etwas dazuverdient zu dem Geld, das mir meine Eltern geben konnten; es reichte oft nicht. Ich habe, weil ich Freiberufler bin, nahezu keine Rentenversicherung, muss mir fürs Alter selbst viel Geld zurücklegen und werde mit
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