Wofür stehst Du?
Mitarbeiterin, die ihre Chefs als Sozialfall stigmatisiert hatten. Da stand H. eine gestandene Frau gegenüber, die ihm in die Augen schaute und ihn mit festem Handschlag begrüßte. Noch bevor sie sich setzten, fragte sie ihn: »Warum machen Sie so etwas? Sie kennen mich doch gar nicht.« Die Frau erzählte ihm, was sie in den vergangenen Jahren durchgemacht hatte, wobei es ihr wichtig war, nicht den Eindruck zu erwecken, als wolle sie Mitleid erheischen. Ihr Mann hatte sich das Leben genommen, und sie war jahrelang von der Rolle gewesen. Sie hatte schnell gespürt, dass die Kollegen mit ihrer Arbeit nicht mehr zufrieden waren, sie konnte das sogar verstehen. Sie hatte sich ihnen auch gelegentlich verweigert, aus Stolz und Trotz, wie sie sagte.
H. sagte mir, erst in diesem Moment habe er wirklich gespürt, was er da angerichtet hatte.
Er habe immer geglaubt, er sei ein Mensch, der sich gut im Griff habe, ein gestandener Profi, ein erfahrener Familienvater. Im Verlauf des Gesprächs aber passierte etwas, was er im Leben nicht für möglich gehalten hätte. H. fing vor der Frau und mitten im Café an zu weinen. Da nahm der Sozialfall seine Hand und sagte: »Das kriegen wir schon wieder hin, Herr H.«
Die Frau blieb in dem Unternehmen, die Kollegen solidarisierten sich mit ihr, und weil sie von der Angst befreit war, dass jemand schlecht über ihre Arbeit reden könnte, lief sie nicht nur zu alter Stärke auf, sie war, wie es ein Vorgesetzter Herrn H. bescheinigte, so gut wie nie zuvor. Die Frau und Herr H. halten bis heute Kontakt.
So weit das Hollywood-Finale.Aber Herr H. war noch lange nicht am Ende. Jetzt kam er auf seine Arbeit im Allgemeinen zu sprechen, redete über die Manager, die er bislang kennengelernt hatte: Es war die Anamnese eines Systems, das krank ist und krank macht. H. berichtete von seinen Erfahrungen mit Spitzenkräften kleiner und großer Unternehmen, bis hinauf zu DAX-Vorständen. »Sie werden es nicht glauben«, sagte er, »aber wissen Sie, wovor diese Menschen die größte Angst haben? Es ist die Angst, dass jemand durchschauen könnte, dass sie ihren Aufgaben im Prinzip nicht gewachsen sind.«
»Warum sollten sie sich so verwundbar fühlen?«, fragte ich. »Meistens handelt es sich doch um hartgesottene Profis mit langer Berufserfahrung.« Aber H. rückte nicht von seiner These ab, er spitzte sie eher noch zu. Seine Formel lautete: Je mehr Angst die Angestellten einer Firma haben und je mehr Druck sie bekommen, desto mehr schwindet bei ihnen der Überblick und, schlimmer noch, das Gefühl für die eigenen Stärken. Das gelte für alle Ebenen der Hierarchie.
Vieles davon sei gewiss der Schnelllebigkeit und auch der großen Unwägbarkeit unserer Zeit geschuldet, aber das habe einen uralten Mechanismus nur verstärkt, nicht erst geschaffen. »Die Leute gehen in die Kantine und quälen sich mit der Frage: Was denken die da am Nebentisch über mich? Und auf dem Weg zum Fahrstuhl treffen sie dann vielleicht noch einen Vorgesetzten oder einen Kollegen, der, weil selbst mit einem Problem befasst, grußlos vorübergeht – und schon kann aus einer anfangs vagabundierenden Angst eine Obsession werden. Und je älter die Beschäftigten sind, desto mehr wächst aus Unsicherheit die Neigung dazu.«
H. sagte, die individualpsychologische Ebene interessiere ihn gar nicht so sehr, viel mehr beschäftigten ihn die Auswirkungen auf die Unternehmen, für die er arbeite. Wenn die Mitarbeiter Angst hätten, bauten sie Fassaden auf und neigten dazu, sich immer stärker dahinter zu verstecken und nach Möglichkeit keine Entscheidungen zu treffen, mit denen sie etwas riskieren. »Sie können es nämlich drehen und wenden wie Sie wollen: Wer etwas anpackt, der macht Fehler.«
Gibt es einen Ausweg aus diesem pathologischen System? Man merkte H. an, dass er sich selbst nicht besser machen wollte, als er war. Es gebe kein Unternehmen, in dem es keine Härten, keine Ungerechtigkeiten und keine Angst gebe – und keinen Unternehmensberater, der daran völlig unschuldig sei. Aber eines sei ihm über die Jahrzehnte schon aufgefallen, sagte er und redete nun wie ein Gewerkschaftssprecher, obgleich er sich später als FDP-Wähler zu erkennen gab: »Der Respekt vor dem Mitarbeiter ist völlig verloren gegangen.«
Und dann plädierte er doch noch für eine neue Unternehmenskultur: »Offenheit, Offenheit, Offenheit!« Jeder Chef müsse bekennen, was er erwarte, sonst sei er kein Chef. Und wenn es ein Problem mit einem
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