Wofür stehst Du?
Mitarbeiter gebe, dann helfe am ehesten die Ansage, dass man es mit ihm zusammen lösen wolle. »Ich bin kein Guru«, sagte H. »Aber Sie glauben gar nicht, was für Kräfte Menschen entfalten, wenn sie sich nicht mehr in der Defensive sehen.«
Ich finde es übrigens immerwieder erstaunlich zu sehen, welche Energien in Menschen stecken können, ohne dass man sie erkennt, ja, wie unter ganz unterschiedlichen Voraussetzungen diese inneren Kräfte entweder gelähmt oder geweckt werden können.
In meiner Abiturklasse gab es einen Schüler, M., der unbedingt Medizin studieren wollte. Unglücklicherweise war er der schlechteste Schüler unter uns, und der Numerus clausus in Medizin war damals außerordentlich streng.
Diesen Freund quälte lange Zeit ein Satz unseres Mathematiklehrers, der eines Tages dem vor ihm Sitzenden bei der Rückgabe einer Schularbeit sagte: »Dich sehe ich doch bei der Müllabfuhr wieder.«
»Hat er wirklich ›Müllabfuhr‹ gesagt?«, fragte ich meinen Mitschüler, als ich ihn vor Kurzem wieder einmal anrief, um mich der Richtigkeit meiner Erinnerung zu vergewissern.
»Nein, ›am Bankschalter‹ hat er gesagt. Aber das ist egal, es klang für mich wie ›Müllabfuhr‹, ein Leben am Bankschalter wäre für mich das Gleiche wie bei der ›Müllabfuhr‹ gewesen.«
Es war so herabsetzend und verachtungsvoll gemeint wie es klingt, und noch nach der Schulzeit erzählte mir M. viele Jahre lang diese Geschichte immer neu, so tief saß dieser Stachel in ihm. So sehr hatte sich ihm eingeprägt, dass die Schule ihn nicht mochte und er deshalb auch die Schule nicht.
Seine Abiturnoten waren entsprechend.
Aber sein Wille, Arzt zu werden, war so groß, dass er nach langem Suchen herausfand, in Belgien sei es auch mit schlechteren Noten möglich, Medizin zu studieren. Das Problem war nur, dass man in Belgien Französisch spricht, und dass er auch in Französisch nicht eben Klassenprimus gewesen war.
Nun begann er aber, Französisch zu lernen. Und er zog nach Brüssel, studierte dort Medizin, in französischer Sprache. Er wurde ein leidenschaftlich für seinen Beruf engagierter Arzt, der heute Oberarzt an einer Klinik in den neuen Ländern ist.
Sein Abiturzeugnis hing viele Jahre lang an der Wand seiner Toilette.
Ich erinnere mich an einen schönen Abend in München. Ich saß mit meiner Frau bei einem stadtbekannten Italiener, einem schillernden Neapolitaner mit stechenden Augen, einer großen Nase und langen schwarzen, nach hinten gekämmten Haaren. In seinem Gesicht lag stets eine Andeutung von Spott, er sah aus wie eine Figur aus einem Grand-Guignol. Dieser Wirt hatte es in der Stadt zu einigem Ansehen gebracht und sich einen Michelin-Stern erarbeitet. Sein zweites Lokal war zu einem Anziehungspunkt für die Münchner Prominenz geworden.
Ich hatte an diesem Tag einen Vertrag unterschrieben, der mich zu einer anderen Zeitung und in eine andere Stadt brachte. Spät am Abend merkte ich, wie mir mulmig wurde. Der Wirt setzte sich zu mir an den Tisch und fragte: »Freust du dich nicht?« Ich hatte schon ein bisschen zu viel Rotwein getrunken, deshalb rutschte mir ein vertrauensseliger Satz heraus: »Doch,aber wenn ich an die neue Aufgabe denke, fühle ich mich ein bisschen wie ein Hochstapler.« Da sprach der Wirt einen Satz, in dem die ganze neapolitanische Philosophie eines Jahrhunderte währenden Überlebenskampfes verdichtet war: »Aber wenn du ein richtig guter Hochstapler bist, merkt das keiner.«
Sein Lachen hallte in meinen Ohren noch lange nach.
Die bittere Pointe daran: Als ich sein Lokal während meines ersten Heimaturlaubs in München wieder besuchen wollte, war es nicht mehr da. Der Wirt hatte sich von einem Tag auf den anderen aus dem Staub gemacht, einen Haufen Schulden zurückgelassen und die Gehälter seiner Mitarbeiter nicht gezahlt. Die letzte Nachricht, die ich von ihm erhielt, war, dass er sich in einem Ort in der Nähe von Neapel eine neue Existenz aufgebaut habe.
Das Gefühl, ein Hochstapler zu sein, kenne ich gut. Wie oft habe ich mich schon so gefühlt? Du gehörst hier nicht hin. Du kannst das doch gar nicht, was man von dir erwartet (und von dem du ja selbst vorgegeben hast, es zu können). Das ging mir schon als Kind so, wenn ich in den Häusern der wohlhabenden Eltern mancher Mitschüler zu Besuch war. Es ist heute nicht viel anders, wenn ich in einem schönen Hotel wohne. Oft denke ich, gleich macht einer die Tür auf und fragt mich, wie ich denn hierhergekommen sei
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