Wogen der Liebe
Yngvar ist mein einziges Kind, das mir noch geblieben ist.« Ihre Hände zitterten.
»Ich bin doch kein Kind mehr«, erwiderte Yngvar in gespielter Empörung.
»Für eine Mutter bleiben es immer ihre Kinder. Umso schlimmer ist es, wenn sie sterben.«
Viviane blickte sich um. Erst jetzt bemerkte sie Truud, zwei weitere Mägde und den alten Knecht Arnulf, die sich in den hinteren Teil der Höhle zurückgezogen hatten.
»Dalla und Halveig sind …« Sie wagte den Satz nicht zu Ende zu sprechen.
»Tot, gefangen, wir wissen es nicht. Wir werden es wohl auch nicht in Erfahrung bringen, denn Ragnvalds Leute dürfen uns nicht entdecken. Einmal waren sie noch hier, haben die Gegend durchsucht. Wir konnten uns zum Glück verstecken, so dass sie uns nicht gefunden haben. Nun denken sie, dass wir auch tot sind.«
Astrid reichte Viviane ein Stück Baumrinde mit einem gegarten Fisch darauf. »Du hast sicher Hunger. Viel haben wir nicht, aber wir teilen es gern mit dir. Raudaborsti schleicht manchmal zu den Bauernhöfen. Die Leute sind arm, Ragnvald hat sie alle ausplündern lassen. Nun sind sie ihm tributpflichtig. Ohne ihre Männer können sie sich nicht dagegen auflehnen, aber sie hoffen, dass Thoralf und seine Leute eines Tages zurückkehren. Deshalb helfen sie uns.«
Vivianes Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen, so hungrig war sie. Sie bekam ein schlechtes Gewissen, denn auch die anderen hatten ja kaum etwas zum Überleben. Astrid bemerkte ihr Zögern.
»Du kannst es ruhig essen. Arnulf fängt jeden Tag Fisch oben am Wasserfall, so dass wir gar keinen mehr sehen können.«
Als Viviane den Fisch mit den Fingern zerteilte, stellte sie fest, dass er mit Apfelstücken gefüllt war. Es duftete köstlich, und es schmeckte ebenso.
»Es war eine Idee von Truud, denn wir haben hier so viele Äpfel. Wenn Raudaborsti sie alle roh isst, bekommt sie wieder Bauchweh.«
Alle lachten, außer Raudaborsti. Die hatte sich neben Truud gekuschelt und müde ihren Kopf an die Großmagd gelehnt. Truud war ungewöhnlich sanft, aber es war ja auch kein Wunder nach diesen schrecklichen Ereignissen. Sie legte schützend den Arm um den kleinen Rotschopf.
»Wenn Raudaborsti mich nicht gesucht und gefunden hätte, hätte ich niemals erfahren, dass ihr überlebt habt.« Viviane fühlte sich nach der Mahlzeit deutlich besser. Sie streckte ihre schmerzenden Beine aus. Astrid legte ihr ein zerschlissenes Fell darüber.
»Ruh dich aus. Welche Qualen musst du erlitten haben. Wo hast du dich versteckt gehalten?«
»In einem Hügelgrab. Bereits auf der Suche nach Yngvar habe ich dort übernachtet. Ich wusste nicht, welche Bedeutung der Hügel hat. Erst Yngvar hat es mir gesagt. Ich wäre sicher nie dorthin zurückgekehrt, aber ich hatte keine andere Wahl. Die Angst vor bösen Geistern hat wohl meine Verfolger abgehalten, mich dort zu suchen.«
»Haben sie dich heimgesucht, diese Geister?«
Viviane dachte an ihren Traum und lächelte sanft. »Sie haben mir einen Blick in die Zukunft geschenkt. Ich bin sicher, es wird sich alles zum Guten wenden.«
Yngvar zog die Augenbrauen zusammen. »Ich bin mir nicht sicher. Die Walküren sind über den Himmel geritten. Das ist kein gutes Zeichen.«
»Man muss nur fest daran glauben. Ich weiß, dass Thoralf wiederkommt.«
»Und bis dahin müssen wir überleben.« Entschlossen erhob sich Yngvar. »Komm, Arnulf, wir holen Holz zum Feuern, und die Frauen sollen den Rest Getreide mahlen und Brotfladen backen.«
Viviane blickte den beiden Männern nach, als sie die Höhle verließen. Mit einem Tannenzweig verwischten sie sofort ihre Spuren hinter sich. Ihr fiel auf, dass Yngvar das linke Bein nachzog.
Truud und die beiden Mägde rückten den schweren Mahlstein herbei. »Zum Glück hat er das Feuer überstanden«, erklärte sie. »Wir haben in den Trümmern gesucht, was wir gebrauchten könnten. Viel ist nicht übrig geblieben. Ein kaputter Kessel, etwas verschüttetes Getreide. Vielleicht liegt noch einiges unter den Trümmern der Häuser, aber wir können sie nicht abtragen, ohne Verdacht zu erregen.«
Während die Mägde arbeiteten, schlief Raudaborsti zusammengerollt wie ein Igel. Viviane streichelte sacht über ihren schmalen Rücken.
»Die Kleine hat nicht aufgegeben und behauptete immer wieder, sie wisse, dass du lebst«, sagte Astrid. »Sie wollte unbedingt auf die Suche nach dir gehen und fürchtete nicht einmal die bösen Geister aus dem Grab.«
»Dort hat sie mich auch gefunden.« Ein warmes
Weitere Kostenlose Bücher