Wogen der Liebe
Gefühl durchflutete Viviane. »Tapferer kleiner Rotschopf.«
Sie wandte sich wieder Astrid zu. »Wie ist es Yngvar ergangen?«
»Es ist Truud zu verdanken, dass Yngvar ein zweites Mal gerettet wurde. Im kalten Wasser des Brunnenschachts kam Yngvar zu sich.« Sie wischte sich über die Augen. »Die Wachen sind alle tot. Arnulf und die beiden Mägde befanden sich im Wald, als es geschah. Raudaborsti hat ihnen alles erzählt, und sie haben Yngvar und Truud aus dem Brunnen geholt.« Sie stockte wieder und presste ihre Hände gegeneinander, als wollte sie die schreckliche Erinnerung vertreiben. »Im Moor haben die Verräter auf alle eingeschlagen, die von Skollhaugen stammten. Und wen sie nicht erschlagen haben, den haben sie wohl gefangen genommen. Ich bin einfach nur gelaufen, gelaufen, gelaufen. Die Angst um meinen Sohn hat mich fast wahnsinnig gemacht.«
Viviane konnte es gut nachfühlen. Auch sie war gelaufen wie ein wildes Tier, aus Angst um ihr eigenes Leben. Astrid hatte nicht an sich gedacht, nur an ihren Sohn. Wie groß musste das Herz einer Mutter sein!
»Das kalte Wasser aber hat sein Fieber vertrieben. Raudaborsti erzählte von dieser geheimen Apfelhöhle, und wir haben Yngvar hierhergebracht.«
»Er hat sich gut erholt«, bestätigte Viviane. Sie erhaschte einen Blick durch die Bäume hindurch. Und wenn Thoralf bald käme …
Sie nahm die Felldecke und legte sich neben Raudaborsti. Sie war unendlich müde und doch glücklich. Das Feuer am Himmel war verloschen, ein neuer Tag brach an, der ihnen Hoffnung gab. Viviane wollte nur noch schlafen und von Thoralf träumen. Hier war sie ihm ein kleines Stück näher.
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Thoralfs Rückkehr
D as Überleben in der Apfelhöhle war nicht einfacher als in dem Hügelgrab. Die Höhle war kleiner, sie waren zu mehreren, lebten in bedrückender Enge, und es fehlte so gut wie alles, um sich zu ernähren, zu wärmen oder gar Kleidung herzustellen. Sie behalfen sich mit dem, was sie hatten. Jeder besaß nur die Kleider, die er am Leibe trug. Lediglich drei verschlissene Felle hatten sie von einem Bauernhof bekommen. Mit diesen Fellen deckten sie sich nachts zu. Das Lager bestand aus etwas Stroh, Heu und Laub, trockenen Zweigen und Kiefernnadeln. Das Feuer glomm und wurde nur zur Zubereitung einer Mahlzeit stärker angefacht. Die Angst, entdeckt zu werden, war zu groß. Nachts schliefen sie eng nebeneinander, wärmten sich gegenseitig und gaben sich auch durch die Nähe Mut. Raudaborsti schlief zwischen Viviane und Truud. Viviane war froh, nicht mehr allein zu sein. Sie war auch froh, dass Astrid sie mit offenen Armen empfangen hatte. Astrid hatte einen großen Verlust erlitten, und Viviane verspürte Mitleid mit ihrer ehemaligen Herrin. Nun war Viviane frei, aber es änderte nichts an ihrer Situation. Sie war auf den kläglichen Rest des Hofstaates von Skollhaugen angewiesen, wollte sie den Winter überstehen.
Manchmal wurde diese Nähe aber zu bedrängend. Dann ging sie hinaus an den Fjord, begleitete den alten Arnulf zum Angeln an den Wasserfall oder half Truud beim Zubereiten der kärglichen Mahlzeiten. Die flinke und listenreiche Raudaborsti schlich sich zu den Bauernhöfen und erbettelte etwas zu essen: Käse, ein wenig Mehl, Sauerkohl oder Dörrfisch, sogar eine Kanne Bier brachte sie eines Tages mit. Und sie wusste Neuigkeiten zu berichten.
»Die Bauern sind sehr unzufrieden, wie Ragnvald sie behandelt. Er hat ihnen einen großen Teil der Wintervorräte einfach weggenommen. Nun befürchten sie, dass sie den Winter nicht überstehen. Sie haben schon fast alles Vieh geschlachtet.« Sie hielt ein Stück Pökelfleisch hoch. »Es ist sehr großzügig, dass sie uns von dem wenigen noch etwas abgeben.«
»Wir werden es ihnen nicht vergessen«, sagte Astrid. »Und wenn Thoralf wiederkommt …«
Yngvar fuhr herum. »Wenn ich kein Krüppel wäre, bräuchten wir nicht auf Thoralfs Rückkehr zu warten!«
Alle starrten ihn an. »So war das doch nicht gemeint.« Astrid fasste ihn an der Schulter, doch Yngvar schüttelte ihre Hände unwillig ab. Das alte Problem brach immer wieder auf.
»Thoralf wird es nicht allein richten können, er braucht alle seine Männer dazu. Dann kann er es schaffen.« Viviane versuchte zu schlichten. Einen Moment lang fühlte sie sich mitschuldig an Yngvars Verletzungen. Wenn sie ihn nicht gedrängt hätte, nach Skollhaugen zurückzukehren …
Wütend verließ Yngvar die Höhle. Mit schleppendem Schritt ging er davon. Viviane wechselte
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