Wogen der Liebe
hervorgekommen war, reichte ihm das warme Brot. Gierig schlang Oleif es herunter, dann hustete er heftig.
»Du bist verletzt. Was haben sie mit dir gemacht?«
»Nichts. Sie haben mich nicht angefasst. Die Nase habe ich selbst in den Dreck gebohrt.«
»Du bist ein Held! Aber woher wusstest du, dass wir hier sind?«
Oleif zeigte auf Raudaborsti. »Ich habe mich im Wald versteckt. Bis ich diesen roten Troll sah, wie er durchs Gebüsch huschte. Ich bin nur dem Geruch gefolgt.«
Raudaborsti drohte ihm mit der Faust, aber dann zog sie den Kopf ein. Sie war nicht vorsichtig genug gewesen, auch wenn es in diesem Fall Glück für Oleif gewesen war.
»Was weißt du von unseren Leuten? Wie viele leben noch?« Astrid setzte sich neben Oleif und reichte ihm die Hälfte des zweiten Brotfladens.
»Man sagt, Dalla und Halveig würden leben«, erzählte er kauend. »Gunnardviga hat sie als Sklavinnen genommen, und sie müssen bei ihr die niedersten Arbeiten verrichten. Ich war nicht in Grondalr, aber Asgeir kam öfter nach Bleytagarðr und erzählte davon.«
Astrid brach in Tränen aus. »Welch eine Schande«, schluchzte sie. »Und ich habe Gunnardviga wie eine eigene Tochter behandelt. Aber wenigstens leben die beiden.«
»Gunnardviga wird Hoskuld heiraten zu Ostara. Darüber spricht ganz Bleytagarðr. Ragnvald ist ja nun der reichste Fürst, und sein Sohn wird einmal alles erben. Aber irgendwie gibt es keinen Frieden, denn Asgeir und Hoskuld haben sich zerstritten, und Sven und Hoskuld sind auch keine dicken Freunde mehr.«
»Vielleicht hat der Reichtum nun ihr Herz gänzlich böse werden lassen«, vermutete Viviane. »Gier und Neid, Hass und Missgunst haben schon lange ihre Seelen vergiftet.«
»Warum haben wir das bloß nicht erkannt?« Astrid rang die Hände.
Viviane schwieg. Astrid hatte es nicht erkennen wollen. Anzeichen gab es schon lange, die Viviane sehr wohl bemerkt hatte. Nur wurde ihren Worten kein Glauben geschenkt. Doch jetzt hatte sich die bis dahin geltende Ordnung auf den Kopf gestellt. Aus den Herren wurden Sklaven, aus den Sklaven wurden Vogelfreie. Für Astrid war das schwerer zu ertragen als für Viviane.
So sehr sie sich freuten, dass Oleif lebte und ihm sogar die Flucht von Bleytagarðr gelungen war, so wurde es nun doch schwieriger in der kleinen Höhle. Der Platz wurde weniger, das Essen auch. Zudem war Oleif verletzt. Er schwieg hartnäckig darüber, aber es war offensichtlich, dass er schwer misshandelt worden war. Er hatte ohnehin sein Leben verwirkt, denn einem entflohenen Sklaven drohte der Tod.
Oleif schien das alles nichts auszumachen. Mit stets guter Laune hielt er sich so oft wie möglich in Vivianes Nähe auf, beglückte sie mit kleinen Aufmerksamkeiten, mal einem hübschen Kiefernzapfen, mal einer aus einem Knochen geschnittenen Pfeife, mal einem Armband aus geflochtenem Rindenbast oder einer aus Fischschuppen gefädelten Kette.
»Ich bin so froh, dass dir die Flucht gelungen ist«, flüsterte er ihr zu.
»Und ich bin dir für ewig dankbar, dass du mir diese Flucht ermöglicht hast«, erwiderte sie. »Schau, das kleine Messer trage ich immer bei mir. Es hat mir geholfen, in der Wildnis zu überleben.«
Oleif errötete vor Stolz. »Raudaborsti sagte, du hättest dich in einem Riesengrab versteckt?«
»Das stimmt. Ich kannte diesen Grabhügel bereits und wusste, dorthin wird niemand mir folgen.«
»Du bist wirklich mutig für eine Frau«, sagte Oleif mit ehrlicher Bewunderung. »Die Geister der Toten haben dir nichts angetan?«
Sie schüttelte lachend den Kopf. »Im Gegenteil! Einige Grabbeigaben haben mir gute Dienste geleistet. Übrigens war das kein Riese, sondern ein ganz normaler Mensch, der da begraben war. Vielleicht war es ein früherer Fürst, denn es lagen viele Gaben um ihn herum.«
Oleif erschauerte. »Du hast den Toten gesehen?«
»Nicht so richtig, auch habe ich die Kammer schnell wieder verschlossen.«
Oleif tippte auf Vivianes Anhänger. »Der hat dich beschützt, stimmt’s?«
»Stimmt! Und du bist so etwas wie mein Schutzengel.«
»Was ist ein Schutzengel?«
»Ein guter Geist, der über mir wacht.«
»Ich bin kein Geist, ich bin noch ziemlich lebendig, Odin sei Dank! Jetzt passe ich aber auf dich auf, damit dir nicht noch einmal so etwas Schreckliches passiert.«
»Das ist lieb von dir, Oleif, aber du musst jetzt auf dich selbst aufpassen. Wir halten uns hier versteckt, damit Ragnvalds Leute uns nicht entdecken, und warten auf Thoralfs Rückkehr. Ich
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