Wogen der Liebe
selbstbewusster und stärker geworden war. Sie konnte sich von dem Anblick am Himmel kaum lösen. Das grüne Licht verfärbte sich, rote, blaue und violette Flammen mischten sich darunter. Sie bemerkte erleichtert, dass diese Feuerschlangen am Himmel blieben. Sie hatten nichts zu befürchten.
»Kennst du solches Licht?«, wollte sie von Raudaborsti wissen. Die Kleine nickte, ohne ihr Gesicht von Vivianes Brust zu nehmen.
»Das sind die Walküren, die über den Himmel reiten. Das tun sie immer nach einer Schlacht. Sie wählen die Helden aus, die an Odins Tafel speisen sollen.« Raudaborsti klammerte sich ängstlich an ihr fest und drehte den Kopf nur so weit zur Seite, dass sie sprechen konnte. Die Augen hielt sie fest zusammengekniffen.
»Walküren? Was ist das?«
»Es sind Geisterwesen, Frauen, die Rüstungen tragen. Sie reiten über den Himmel und suchen auf dem Schlachtfeld die Leichen der in Ehren Gefallenen. Die gehen in Walhall ein und dürfen dann an Odins Tafel speisen.«
»Du meinst, sie sind so etwas wie Todesengel?«
Raudaborsti zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Oleif wusste darüber besser Bescheid.«
»Ob er auch in Walhall ist?« Viviane wurde bei dem Gedanken an Oleif traurig. Sie hatte den kecken Schmiedegesellen gemocht.
»Das wissen nur die Walküren. Ich weiß nur, dass es das Mondlicht ist, das sich auf ihren Rüstungen spiegelt. Je mehr Licht am Himmel ist, umso mehr Walküren reiten durch die Luft. Ich habe Angst.«
»Das musst du nicht. Denk dir nur, es ist hell, da werden wir den Weg nach Skollhaugen nicht verfehlen.«
»Du willst jetzt gehen?« Entsetzen klang in Raudaborstis Stimme.
»Dann bleiben wir hier. Komm in die Höhle.«
»Nein!«
»Gut, dann gehen wir.«
»Nein!«
»Was willst du denn?«
Raudaborsti rollte sich zu einer Kugel zusammen. »Ich bleibe hier, bis alles vorbei ist.«
Viviane blickte hinauf, doch die leuchtenden Schlangen züngelten weiter über das Himmelszelt. Jetzt, wo es gänzlich dunkel geworden war, waren diese Erscheinungen noch deutlicher zu sehen. Wie feine Schleier aus Licht zogen sie über ihren Köpfen dahin. Dahinter funkelten vereinzelt Sterne. Sie musste zugeben, dass diese seltsamen Geisterwesen sie ängstigten, aber vor Raudaborsti wollte sie das keineswegs zugeben.
»Ich beschütze dich«, versprach Viviane.
»Gegen die Walküren gibt es kein Mittel«, schnaufte die Kleine. »Vielleicht holen sie mich.«
»Ich denke, sie holen nur die toten Kämpfer? Schau, sie leuchten uns zurück nach Skollhaugen.«
Zögernd hob Raudaborsti das Gesicht. »Meinst du wirklich?«
Viviane nickte. »Und jetzt bin ich auch ganz sicher, dass ich zurück nach Skollhaugen will. Dort werden wir gemeinsam auf Thoralfs Rückkehr warten.«
Raudaborsti holte tief Luft. »Ich bin wirklich froh, dass du lebst«, meinte sie treuherzig. »Auch wenn du nicht meine Mama bist, so wie du hätte ich sie mir gewünscht.«
Viviane drückte sie lachend an sich. »Das ehrt mich wirklich. Nun lass uns gehen. Vorsichtshalber nehmen wir brennende Zweige mit.«
Raudaborsti rang mit sich, ob sie Viviane in die Höhle begleiten oder unter den über den Himmel reitenden Walküren warten sollte. Sie hockte sich wieder hin und wartete zitternd, bis Viviane mit den Fackeln zurückkam. Doch sie brachte noch etwas anderes mit.
»Was ist das?«, wollte Raudaborsti wissen. »Was zu essen?«
»Leider nicht«, bedauerte Viviane. »Es gibt nur etwas Brei aus Kiefernrinde.«
Raudaborsti verzog das Gesicht. »Es gibt noch jede Menge Äpfel«, meinte sie dann zuversichtlich. »Was hast du da?«
»Einen Stein«, erwiderte Viviane.
»Du schleppst einen Stein mit?« Da war es wieder, was Raudaborsti an Viviane nicht verstehen konnte.
»Es ist ein ganz besonderer Stein, der vom Himmel gefallen ist«, erklärte Viviane, bevor sie losgingen. »Ich glaube, das Licht da oben ist ein gutes Zeichen. Und dieser Stein ist ein Sendbote, dass sich alles zum Guten wenden wird.«
Es war ein beschwerlicher Weg. Das lag nicht nur an dem hohen Schnee, an ihrer mehr als mangelhaften Bekleidung, ihrem Hunger. Immer wieder blickten sie zum Himmel, wo die Feuerschlangen sich wanden und ab und zu ihre Farbe veränderten. Sie tauchen die Umgebung in ein gespenstisches Licht. Raudaborsti fürchtete sich noch immer, und selbst Viviane sprach sich im Stillen Mut und Zuversicht zu. Sie hatte Raudaborstis Hand ergriffen. Die brennenden Äste waren längst erloschen, doch die Wölfe hatten sich offenbar
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