Wogen der Liebe
leuchten wie das Nordlicht am Himmel. Und nun lasst mich ein heißes Bad nehmen und den Schmutz der vergangenen Reise abspülen. Meine Braut will ich als strahlender Held empfangen. Wir wollen ein großes Fest feiern, denn alle meine tapferen Männer haben es verdient. Dann werden wir die Beute teilen.«
Unter dem wüsten Geschrei der Anwesenden verließ Thoralf die Halle. Sofort begann ein emsiges Treiben. Während Thoralfs Familie bei Tisch sitzen blieb und Bier trank, eilten Mägde, Knechte und Gehilfen hin und her. Draußen wurden Ziegen geschlachtet, Mehl zum Brotbacken wurde hereingeschleppt. Aus den Vorratshäusern brachten die Mägde Grütze, Pilzgemüse, Pökelfleisch, Fisch, Erbsen und Kraut. Bald duftete es von der Feuerstelle her köstlich.
Viviane hatte sich in die hinterste Ecke der Halle verzogen und hockte fast unsichtbar zwischen den mit Birkenzweigen geschmückten Balken. Mit großen Augen betrachtete sie das Geschehen. Hatte sie schon der städtische Trubel in Ribe mehr beeindruckt, als sie zugeben wollte, so vermochte sie ihr Erstaunen über Thoralfs Heim nicht mehr zu unterdrücken. Wie konnte ein so blutrünstiger und gnadenloser Räuber in solch einem Luxus leben? Nahm er tatsächlich ein heißes Bad? Am liebsten wäre Viviane hinausgeschlichen und hätte sich mit eigenen Augen davon überzeugt. Aber sie wollte nicht entdeckt werden. Zudem ziemte es sich nicht, einem Mann beim Baden zuzusehen. Daheim wurden Vorhänge in der Hütte gespannt, wo die Frauen schliefen und sich umkleideten.
Sie zuckte zusammen, als sie eine zaghafte Berührung spürte. Schnell zog sie die Hand weg. Sie blickte in das Gesicht eines Wesens, das sich neben sie hockte. Erst auf den zweiten Blick erkannte Viviane, dass es ein Kind unbestimmbaren Alters war. Das Auffälligste an ihm war das leuchtend rote Haar. Es hätte auch aus der gefärbten Wolle bestehen können, die im mittleren Raum an der Decke hing. Doch es stand struppig vom Kopf ab. Zwei himmelblaue Augen starrten Viviane neugierig an.
Als das Kind lächelte, tanzten die hellen Sommersprossen auf seiner Nase. Es trug einen schlichten Kittel aus grob gewebtem Stoff. Deshalb vermutete Viviane, dass es sich auch um ein niederes Wesen handelte, vielleicht sogar einen Sklaven. Es war jedoch nicht zu erkennen, ob es ein Junge war oder ein Mädchen. Es tippte Viviane mit dem Finger an, dann lächelte es wieder.
»Wer bist du?«, wollte Viviane wissen.
Das Kind neigte den Kopf.
»Du verstehst mich nicht?« Sie zeigte auf sich selbst. »Viviane«, sagte sie. Dann zeigte sie auf den Rotschopf. Jetzt begriff das Kleine. »Raudaborsti«, flüsterte es und grinste übers ganze Gesicht.
»Raudaborsti?« Viviane lachte nun auch. Der Name war passend, Rotborste, auch wenn sie immer noch nicht wusste, ob es nun ein Junge oder ein Mädchen war. Sie musste unbedingt die Sprache der Wikinger lernen, um alles besser verstehen zu können. Zwar kamen daheim auf der Insel immer wieder Händler auf Schiffen vorbei, die die nordische Sprache beherrschten, aber meist hatten die Alten mit ihnen verhandelt.
Kurzerhand hob Viviane Raudaborstis Kittel hoch. »Du bist ein Mädchen!« Das hatte sie nicht erwartet. Raudaborsti schlug auf Vivianes Hand und war im nächsten Moment verschwunden. Viviane hoffte nur, dieser kleine rote Troll würde sie nicht verraten.
In dem ganzen Tumult, der auf dem riesigen Hof herrschte, kümmerte sich jedoch niemand um sie. Nach einiger Zeit beschloss sie, ihr Versteck zu verlassen und sich auf dem Hof umzuschauen. Vielleicht gab es doch eine Möglichkeit zur Flucht. Unten am Ufer hatte sie eine Menge Boote gesehen, kleinere, wie man sie zum Fischen verwendete. War sie übers Meer gekommen, musste sie auch übers Meer wieder gehen. Doch im Augenblick war es wichtiger, sich alles gut einzuprägen und sich auch die Menschen genau anzuschauen. Vertrauen würde sie hier niemandem können. Deshalb musste sie selbst die beste Gelegenheit zur Flucht finden.
Die kleineren Gebäude dienten als Unterkünfte und Werkstätten für das Gesinde des riesigen Hofes. Viviane sah Webstühle, Spindeln und Körbe voller Wolle, die noch gesponnen werden musste, sie entdeckte ein Haus, in dem die Männer wohnten, wo sie Gerätschaften herstellten, Leder bearbeiteten, Holzwaren schnitzten. In einem Haus wurde Bier gebraut, in einem anderen Getreide aufbewahrt. An den Deckenbalken hingen Räucherfleisch und Stockfisch, in Fässern waren Kohl und Hering eingelegt. Hier litt
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