Wogen der Liebe
niemand Hunger.
Viviane stellte fest, dass die wichtigsten Häuser mit schweren Holztüren gesichert waren, die abgeschlossen werden konnten. Zudem umgab eine gewaltige Palisadenwand das Anwesen, das somit uneinnehmbar wurde. Jetzt standen alle Türen und Tore offen. Von den Schiffen wurden Waren heraufgebracht und im Hof abgelegt.
Und dann erschien Thoralf. Beinahe hätte sie ihn nicht wiedererkannt. Viviane versteckte sich hinter einem der Vorratsgebäude.
Thoralf trug die kostbarste Kleidung, die Viviane je gesehen hatte. Damit übertraf er sogar seinen Vater Björgolf Einbein. Seine Hose bestand aus gefälteltem Wollstoff, den er unterhalb der Knie mit Bändern zusammengebunden hielt. Seine Füße steckten in kunstvoll gearbeiteten halbhohen Stiefeln aus hellem Ziegenleder. Doch am prächtigsten war sein Übergewand. Ein Leinenhemd mit sorgsam umsäumten Kanten schaute unter dem in strahlendem Blau gefärbten wollenen Überwurf hervor. Dieser wurde in der Taille mit einem geflochtenen und mit Bronzeplättchen beschlagenen Gürtel gebunden. Darüber trug er einen gestreiften Umhang in leuchtenden Farben. Wer ihn gewebt hatte, musste ein wahrer Meister sein. Rote, weiße, blaue und honigfarbene Streifen in verschiedener Breite wechselten sich in vollendeter Harmonie ab. An den Schultern wurde der Umhang mit zwei kunstvoll gearbeiteten Fibeln aus Silber gehalten.
Im Gegensatz zu Björgolf trug Thoralf keine Kopfbedeckung. Sein Haar war jedoch aufgehellt und leuchtete mit einem goldenen Schimmer. Mit einem Schildpattkamm war es sorgfältig in Strähnen und Locken aufgeteilt worden. Er war so eine stolze Erscheinung, dass Viviane der Atem stockte. Nichts war mehr von dem wilden und gesetzlosen Räuber übrig.
Thoralf war sich seiner Wirkung bewusst. Wie ein König stolzierte er über den Hof, zwischen den kichernden Mägden und den bewundernd schauenden Männern hindurch, begutachtete die aufgestapelten Beuteschätze und gab hier und da Anweisungen.
Erneute Hornsignale ließen alle aufhorchen.
Astrid kam aus dem Haus gelaufen und klatschte in die Hände. »Besuch trifft ein. Sputet euch! Nehmt Aufstellung, damit wir ihn ehrwürdig empfangen können.«
»Besuch, wir bekommen Besuch!« Raudaborsti war urplötzlich wieder aufgetaucht und hüpfte aufgeregt umher. »Besuch ist immer gut, da gibt es wieder viel zu essen.«
Sie bekam einen Klaps von Truud, der Großmagd.
»Du kleiner Vielfraß, es bedeutet Arbeit, viel Arbeit. Davor läufst du davon wie ein Hase.« Aber auch sie reckte den Hals, um zu erkennen, wessen Besuch angekündigt wurde.
»Oh, es ist Ragnvald!«
Viviane beugte sich zu Raudaborsti herab. »Wer ist Ragnvald?«
»Der Jarl von Bleytagarðr. Er besitzt einen ähnlich großen Hof wie Björgolf Einbein, Moorhof genannt. Vielleicht sogar einen noch größeren. Sie wetteifern miteinander, wer die meisten Kühe hat und die größten Schätze heimbringt. Allerdings sagt man, dass sein Sohn Hoskuld deswegen nicht zur See fährt, weil ihm auf dem Schiff übel wird. Eine Schande für Ragnvald und seine ganze Sippe.«
Im nächsten Augenblick glich der Hof einem Ameisenhaufen. Von überall kamen die Menschen herbeigelaufen und drängten zum Tor. Wie bereits bei Thoralfs Ankunft nahmen sie Aufstellung. Jetzt hinkte auch Björgolf Einbein aus dem Haus und gesellte sich zu seiner Frau. Das Bier hatte sein Gesicht gerötet und er stützte sich schwankend auf seinen Stock.
Verdeckt von den vor ihr stehenden Menschen, wagte Viviane einen Blick zwischen den Palisaden hindurch. Hatte sie bis eben noch geglaubt, nichts könne Kleidung und Ausstattung der Leute von Thoralfs Sippe übertrumpfen, so wurde sie nun eines Besseren belehrt. Der Anführer des Trupps von Reitern musste ein Fürst oder König sein. Er trug ein indigoblaues Gewand aus Wolle, das über und über mit kleinen Bronzeplättchen, Glasperlen und Spiegelteilchen besetzt war, dazwischen dekorative Streifen aus verschiedenen Fellarten. Auf dem mit Kalkschlamm zu einer merkwürdigen Frisur getürmtem Haar trug er eine schmale Krone aus Goldblech, an deren Stirnseite ein roter Edelstein wie Glut glimmte. Sein Umhang war ähnlich gestreift wie der von Thoralf, in leuchtenden Farben und in kunstvoller Verarbeitung.
Sie ritten auf kleinen, gedrungenen Pferden von fahler Farbe, geschmückt mit prächtigem Zaumzeug, bestickten Decken und in die Mähnen geflochten Glasperlen. Begleitet wurde Ragnvald von einem großen Gefolge aus Männern mit Schilden und
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