Wogen der Liebe
verlassen in diesem wilden, zerklüfteten Land mit seinen ebenso wilden und heidnischen Bewohnern. Sie erwartete nur noch Dunkelheit, Leid und Schmerz. Verzweifelt schloss sie die Augen. Ihre Lippen murmelten stumme Gebete, auch wenn sie ahnte, dass Gott sie nicht mehr erhörte.
»Was machst’n du da?«
Die kindliche Stimme riss sie aus ihrer Versunkenheit. »Raudaborsti! Wo kommst du her?«
Die Kleine zeigte auf eine Hütte am Rand des Hofes. »Da wohnen wir. Du auch.«
»Ich auch?«
Raudaborsti nickte. »Komm mit, ich zeige es dir.«
Sie führte Viviane zur Hütte. Ein Vorhang aus grobem Stoff verdeckte den Eingang.
Erstaunt blieb Viviane stehen. Das Innere war ähnlich ausgestattet wie ihre Hütte daheim auf der Insel. Zu beiden Seiten befanden sich Strohschütten mit Fellen darauf zum Schlafen, in der Mitte die Arbeitsbereiche mit einem kleinen Webstuhl, jede Menge Spindeln, Körbe voll Wolle, Schüsseln mit Pflanzen, Nussschalen und Beeren zum Färben der Wolle, ein Eimer mit Trinkwasser. An der Wand hingen hölzerne Schüsseln, Trinkgefäße und Löffel. In der Mitte befand sich ein Steinkreis, in dem ein Feuer entfacht werden konnte. Jetzt lag nur kalte Asche darin. Alle Sklaven, Mägde, Knechte und sonstigen Bewohner von Skollhaugen waren im Haupthaus bei der Opferung. Im Nachbargebäude wohnten die männlichen Bediensteten des Hofes, was man an den Weiden zum Korbflechten, dem Holz zum Schnitzen und dem Leder zur Weiterverarbeitung erkennen konnte. Doch auch hier war niemand. Viviane blickte sich weiter um. Etwas abseits gab es ein weiteres Gebäude, das nur halb überdacht war. »Eine Schmiede!«
»Was dachtest du denn? Wir haben hier auf Skollhaugen alles, was wir brauchen. Rundum gibt es viele Felder, auf denen Getreide und Gemüse wachsen. Die Bauern wohnen auch dort.«
Sie strahlte über das ganze schmutzige Gesicht. »Ich bin froh, dass ich hier drinnen wohne. Es kommen keine Räuber und auch keine Bären und Wölfe herein. Und wenn wir nicht vergessen, Walfischtran in die kleine Lampe über der Tür zu gießen, kommen nachts auch keine Trolle und Alben.«
»Bären? Trolle? Lieber Himmel, das ist ja entsetzlich!«
»Alles halb so schlimm!« Raudaborsti winkte ab. »Gegen alles gibt es einen Bannzauber. Ich kenne viele.«
»Das beruhigt mich ja«, flüsterte Viviane ohne rechte Überzeugung.
»Du hast bestimmt Hunger. Ich bringe dir eine Schüssel Grütze.«
Raudaborsti huschte davon wie ein Mäuschen. Unschlüssig stand Viviane in der Hütte. Dann nahm sie eine Kelle und schöpfte Wasser aus dem Eimer. Das kühle Nass tat ihr gut. Hier sollte sie also ihr weiteres Leben verbringen.
Sie wusste nicht, wie sie die seltsame Wendung bewerten sollte. Gunnardviga wollte sie nicht haben. Sollte Viviane nun froh darüber sein?
Gunnardviga war eine schöne Frau, doch sie war sicher sehr eigensüchtig und hartherzig. Es war nur so ein Gefühl, doch Viviane war sich sicher, bei Gunnardviga hätte sie kein gutes Leben gehabt. Aber was war ein gutes Leben? Würde sie das bei Thoralf führen?
Sie erinnerte sich an Thoralfs eigenartige Verwandlung, als er, frisch gebadet und in prächtige Kleider gehüllt, über den Hof ging. Wie stolz er war, wie eitel und prunksüchtig. Und wie herablassend er Viviane behandelt hatte. Sie war nur eine Gefangene. So schnell wurde aus einem freien Menschen ein Sklave. Es war die Entscheidung eines Augenblicks, wer Sieger und wer Besiegter war.
Raudaborsti kam mit einer Schüssel Grütze zurück. In der Mitte schwamm ein Stück fettiges Fleisch. Dankbar nahm Viviane das Essen entgegen. Erst jetzt bemerkte sie, dass ihr Magen knurrte.
Raudaborsti hockte sich daneben und beobachtete, wie Viviane aß. Unter dem Schmutz ihres Gesichts waren Sommersprossen zu erkennen. Ihre blauen Augen leuchteten, und ein zufriedenes Lächeln stand auf ihren Lippen. Dann griff sie unter ihren Kittel und zog ein Stück Brot hervor. Es war ganz frisch gebacken und duftete köstlich. Sie reichte es Viviane.
»Willst du gar nichts essen?«, wollte Viviane wissen.
»Doch, ich habe mir schon etwas geholt. Immer hinter dem Rücken der Großmagd. Sie verteilt das Essen an alle, auch an die Knechte. Aber heute hat sie mit dem Zubereiten und Bedienen für die Feier zu tun. Da passt sie nicht so auf mich auf.« Raudaborstis Grinsen wurde breiter. »Außerdem bin ich flink.«
»Das habe ich schon festgestellt. Was tust du hier?«
Raudaborsti hob die Schultern. »Alles Mögliche. Manchmal
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