Wogen der Liebe
nicht jeder mit dem Ort seiner Geburt?«
Viviane schluckte schwer. »Ja«, brachte sie gepresst hervor.
»Du denkst an deine Heimat?«
Sie nickte stumm und starrte wieder hinaus auf den Fjord. Thoralf folgte ihrem Blick. »Ich werde wieder auf Fahrt gehen«, sagte er unvermittelt.
Viviane hob den Kopf. Die Frage stand in ihren Augen. Thoralf mochte ihren Blick nicht erwidern. »Gunnardviga sagte, es sei nicht genug, was ich ihr zu Füßen legte. Sie verlangt mehr als Brautgeschenk. Zobelpelze will sie haben, Bernsteinschmuck und Jadeschnitzereien. In den nächsten Tagen werden wir in See stechen.«
Ihre Traurigkeit verstärkte sich. Sie knetete ihre Finger.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, beruhigte Thoralf sie. »Du kannst auf Skollhaugen bleiben. Da gehörst du hin.« Sanft strich er ihr über das fuchsrote Haar. Vivianes Lippen zitterten. Sie hätte früher nicht vermutet, dass seine Hand so zart streicheln konnte. Sie hob den Blick zu ihm. Nun erwiderte Thoralf ihren Blick.
Ihr fiel auf, wie ebenmäßig sein Gesicht war. Die Haut von der Sonne gebräunt, die Augenbrauen und das Haar gebleicht. Seine blauen Augen leuchteten und schauten sie ebenso forschend an. Er besaß eine gerade Nase, sanft geschwungene Lippen über einem energischen Kinn. Seine Wangen hatte er glatt rasiert, das Haar sorgfältig gekämmt.
Viviane verspürte ein Kribbeln im Bauch, das sich zu einem beinahe schmerzhaften Ziehen verstärkte. Irritiert zuckte sie zurück. Sie durfte dieses Gefühl nicht wieder zulassen.
Er ließ seine Hand sinken, auf sein Knie fallen. Viviane legte vorsichtig ihre Hand darauf. Es war ein ungleiches Paar, die gebräunte, derbe, mit blondem Flaum überzogene Hand des Wikingers und ihre, klein, beinahe zerbrechlich, hell.
Thoralf lächelte. Sie hob den Blick und ihre Hand, dann strich sie ihm ebenso zart über sein Haar. Er hielt still, immer noch lächelnd.
»Warte auf mich. Mein Auge soll sich daran erfreuen, dich als Erste zu sehen, wenn ich mit meinem Schiff Skollhaugen erreiche. Ich werde dich nicht vergessen, auch wenn ich weit weg bin. Vielleicht bist du mein Schicksal. Die Götter haben es so bestimmt.«
»Wer auch immer es so bestimmt hat, wir werden uns fügen«, flüsterte sie. Plötzlich kam ihr alles so wunderbar vor. All ihr Groll, ihr Hass, ihre Angst waren wie weggeblasen. Das Ziehen in ihrem Bauch verstärkte sich weiter. Tränen traten in ihre Augen. Sie begriff, Thoralf war der einzige Mensch, der ihr jetzt wirklich nahestand. Sie hatte doch sonst niemanden.
»Nicht weinen, kleine Füchsin«, versuchte Thoralf sie zu trösten. »Wenn ich wiederkomme, wird ein großes Fest gefeiert. Dann werde ich Gunnardviga heiraten. Sie wird die schönste Frau weit und breit sein, in einem Umhang aus Zobelpelz, in einem Kleid aus Seide, wie es die Fürstinnen im Land der Rus tragen, mit einer Krone aus Jade und Bernstein auf dem Haupt. Sie wird meine Fürstin sein, ihr Land mit dem Hof Grondalr wird zu Skollhaugen gehören. Und ich trage den Umhang, den du mir webst, mit Streifen, grün wie deine Augen, rot wie dein Haar und weiß wie deine Haut. Wir werden das mächtigste Fürstengeschlecht der ganzen Küste sein.«
Thoralf erhob sich. Betroffen blickte Viviane ihm nach, wie er den Hang hinauf zum Gehöft stapfte, mit dem schweren Schritt eines Seemanns. Doch er hielt den Kopf gesenkt. Von seinem anmaßenden Stolz war nicht mehr viel zu bemerken. Gunnardviga hatte bestimmt, was er zu tun hatte.
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Verrat
S chau, hier wachsen viele Beeren«, jubelte Raudaborsti. Wie ein Hase sprang sie hin und her, wusste nicht, wo sie zuerst pflücken sollte. Sie wirbelte ihren Korb herum und verlor einen Teil dessen, was sie bislang gesammelt hatte.
Viviane blieb am Rand der Lichtung stehen. Es hatte sie eine große Überwindung gekostet, mit Raudaborsti in den Wald zu gehen. Er flößte ihr Angst ein. Doch Truud hatte darauf bestanden. Für den Winter wurden viele Vorräte benötigt, zusätzlich zu dem, was auf den Feldern geerntet wurde. Für das Vieh waren Laub und Heu eingefahren worden. Auf den Weiden grasten die Rinder, Ziegen und Schafe die letzten Grashalme ab. In den Vorratshäusern stapelten sich die Körbe mit Korn, wurde in großen Fässern Kraut gesäuert. Wenn der erste Frost kam, würden Schweine geschlachtet und das Fleisch würde geräuchert. Trockenfisch hing auf langen Stangen in der warmen Herbstsonne. Im Wald duftete es nach Pilzen. Raudaborsti kannte viele und wusste, welche
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