Wogen der Liebe
Höhle war niedrig, sie konnte darin kaum stehen. Das hatte jedoch den Vorteil, dass man sie gut aufheizen konnte. Sie brauchte nur Holz zu sammeln und Feuer zu entfachen. Sie besaß ein Messer und konnte damit auf einem Stein Funken schlagen.
Mit den Händen erweiterte sie den zugeschneiten Eingang. Nicht zu sehr, denn der Schnee schützte sie, sondern so, dass sie gerade hinauskriechen konnte. Geblendet schloss sie die Augen. Alles war in eine dicke Schneedecke gehüllt, die ihr bis weit über das Knie reichte. Langsam gewöhnte sie sich an das gleißende Licht und blickte sich um. Niemand war ihr gefolgt, niemand würde ahnen, dass sie sich hier versteckt hielt. Das musste auch so bleiben. Es konnte durchaus sein, dass Asgeirs Männer den Wald durchsuchten. Bei diesem Gedanken schnürte sich wieder ein unsichtbarer Reif um ihre Brust. Nur um Haaresbreite war sie dem Tod entronnen.
Dieser Teufel hatte es also wahr gemacht! Skollhaugen lag in Schutt und Asche, die Schätze geraubt und seine Bewohner wahrscheinlich allesamt niedergemetzelt und im Moor versenkt.
Viviane ließ sich in den Schnee sinken und begann zu schluchzen. Sie dachte an Raudaborsti und Oleif, an Truud und Yngvar, auch an Astrid, die ihr nicht vertraut hatte. Warum nur war alles so gekommen? Ihre Finger krallten sich in den Schnee. Sollten ihre Tränen zu Eisperlen gefrieren?
Plötzlich gewann ihr Lebensmut wieder überhand. Sie erhob sich und stapfte weiter auf der Suche nach Zweigen und kleinen Ästen. Sie brauchte nicht weit zu gehen. Der Schnee hatte einige von den umstehenden Bäumen abgebrochen. Sie brauchte sie nur über dem Knie zu brechen und in die Höhle zu schaffen. Eifrig machte sie sich ans Werk. In kurzer Zeit hatte sie ein kleines Bündel zusammengetragen, das sie sich unter den Arm klemmte und in die Höhle brachte.
Doch dann gab es ein Problem. Zwar besaß sie das Messer, das Oleif ihr in die Hände geschoben hatte, doch woher sollte sie einen Stein nehmen, um daraus Funken zu schlagen? Der Schnee lag so hoch, dass es unmöglich war, mit bloßen Händen nach einem Stein zu graben. Außerdem gab es hier oben im Hochmoor keine Steine. Dafür wuchsen Büsche und Laubbäume, Gras und Beerensträucher. War ihr Überlebenskampf doch noch zum Scheitern verurteilt? Sie blickte hinauf zur Höhlendecke. Dieser Hügel bestand aus Erde. Vielleicht gab es dazwischen einen Stein, den sie benutzen konnte. Es war dunkel, sie konnte fast nichts erkennen. Mit den Händen tastete sie an der Wand entlang. Die Erde war über die vielen Jahrhunderte fest geworden, fast wie Stein. Sie kratzte mit den Fingernägeln. Vergeblich! Vorsichtig tastete sie weiter. Im hinteren Teil der Höhle veränderte sich das Material. Viviane schien, dass es nicht so fest gestampft war. Plötzlich gab die Wand unter ihren Händen nach. Es ertönte ein dumpfer Laut, dann stürzte sie ein. Ein großes, dunkles Loch klaffte darin, das konnte Viviane in dem wenigen Licht, das durch den Eingang fiel, erkennen. Sie hielt den Atem an. Vielleicht gab es ein wildes Tier hier drinnen. Sie dachte mit Grausen an den Bären, der Yngvar angefallen hatte. Doch das war nicht möglich, die Wand war ja geschlossen gewesen. Aber vielleicht hausten hier Trolle und Geister oder gar ein Riese, der kein Licht brauchte? Sie wich bis zum Eingang zurück und wartete. Aber nichts passierte.
Viviane nahm allen Mut zusammen und ging Schritt für Schritt auf das klaffende Loch zu. Dahinter war es stockfinster. Es schien aber einen weiteren Raum zu geben. Mit pochendem Herzen stieg sie durch das Loch. Hier herein drang fast kein Licht mehr. Sie stieß schmerzhaft mit dem Schienbein gegen einen Holzpflock. Scharf sog sie die Luft durch die Zähne. Dann beugte sie sich vor und tastete mit den Händen. Ihre Finger erfühlten verschiedene Gegenstände, eine Schüssel aus Kupfer, einen Tonkrug, der unter ihren Händen zu Staub zerfiel, morsches Holz, dann einen Knochen. Sie zuckte zurück. Hier war jemand begraben worden, und ringsum lagen Grabbeigaben. Der Tote, wer auch immer das gewesen war, sollte es auch im Jenseits gut haben. Doch er brauchte es nicht. Viviane war sich sicher, dass man im Paradies keine irdischen Gelüste mehr haben würde, dort gab es weder Hunger noch Kälte, weder Schmerz noch Leid. Demzufolge benötigte der Tote auch die Gegenstände nicht. Weshalb sonst standen sie noch da?
Sie nahm allen Mut zusammen und tastete sich weiter. Die Schüssel, einen Kessel, eine bronzene Axt
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