Wogen der Liebe
dahin musste sie versuchen, irgendwie zu überleben.
Sie hatte das Gefühl, dass jemand sie beobachtete. Unbehaglich drehte sie sich um. Auf dem untersten Ast eines Baumes saß eine Eule. Sie hatte ihr Gefieder dick aufgeplustert und starrte Viviane aus runden gelben Augen an. Dieser Blick fesselte sie. Noch jemand, der Hunger hatte und wahrscheinlich auf eine Maus wartete, die unvorsichtig aus der Höhle schaute. Aber sicher hielten die Tiere ihren Winterschlaf, in Höhlen, vollgepackt mit Vorräten, die sie über den Sommer und Herbst gesammelt hatten. Viviane sollte nach diesen Höhlen graben und würde vielleicht sogar Nüsse und Getreide finden. Doch angesichts der Schneehöhe war das wohl ein aussichtsloses Unterfangen.
Vielleicht sollte sie eine Schlinge auslegen. Sie besaß schließlich noch den Strick, mit dem ihre Hände gefesselt waren. Sie hatte im Schnee eine Hasenspur entdeckt. Sie wollte ihr folgen. Mit etwas Glück könnte sie den Hasen fangen. Doch der Blick auf den kurzen Strick, den sie um ihre Hüfte gebunden hatte, ließ sie mutlos werden. Kein Hase würde sie so nahe herankommen lassen. Und wenn sie nun nach Skollhaugen ginge? In den Trümmern würde sie vielleicht etwas Getreide finden, ein paar Vorräte, die die Plünderer übersehen hatten.
Doch auch diesen Gedanken ließ sie schnell wieder fallen. Sie musste sich von allen Höfen fernhalten. Auch wenn die Menschen hier weit auseinander lebten, die Nachrichten verbreiteten sich schnell. Und für eine entflohene Sklavin gab es keine Gnade.
Mutlos ließ sie die Arme sinken. So intensiv sie auch nachdachte, sie fand keinen Ausweg. Sie musste in dem grausigen Hügelgrab bleiben und irgendwie die Zeit überstehen, bis Thoralf zurückkam. Das konnte Monate, ja Jahre dauern …
Am Himmel schrie ein Raubvogel. Es war ein Seeadler. Viviane musste die Augen beschatten, um ihn zu erkennen. Er kreiste im kristallklaren Himmelsblau, ohne einen Flügelschlag. Auch er war auf der Suche nach etwas Fressbarem. Plötzlich stürzte er wie ein Stein herab. Offenbar hatte er Erfolg bei der Jagd.
Viviane stand wie erstarrt, dann begann sie zu laufen, so schnell sie konnte. Es war nicht weit von ihr entfernt, vielleicht auf einer Lichtung. Sie musste sich beeilen, bevor der Raubvogel seine Beute selbst verschlang. Ihr Atem keuchte, ihre Wangen röteten sich. Sie kam im hohen Schnee nur schlecht vorwärts, doch jetzt zählte jede Minute. Im Laufen ergriff sie einen abgebrochenen Ast.
Auf einer freien Schneefläche sah sie den Adler sitzen. Sein Gefieder war struppig, er hielt die Schwingen ausgebreitet, als wolle er seine Beute schützen. Mit scharfem Blick wandte er den Kopf zu Viviane.
Sie hob drohend den Knüppel. Der Adler hüpfte nur ein kleines Stück beiseite. Sie sah im Schnee einen Hasen liegen. Er war tot. Der Raubvogel hatte begonnen, das Fell zu rupfen. Blut hatte den Schnee rot gefärbt. Erst jetzt erkannte Viviane, wie groß der Vogel war. Seine Flügelspannweite war größer, als wenn sie selbst ihre Arme ausbreitete. Und er besaß mächtige Krallen an seinen gelblichen Zehen. Wenn der Adler sie angriffe, hätte sie keine Chance. Doch wenn sie aufgab, hatte sie nichts zu essen. Der Adler oder sie! Sie musste um den toten Hasen kämpfen.
Viviane schrie aus Leibeskräften, während sie mit dem Ast nach dem Vogel schlug. Doch auch der Adler kämpfte um seine Beute. Er riss seinen Schnabel auf, schlug mit den Flügeln. Er sprang auf Viviane zu, hüpfte wieder zurück. Es war ein ausgewachsenes Tier mit dunkelbraunem Gefieder und einem weißen Schwanz. Wahrscheinlich hatte er am Fluss keine Fische mehr fangen können.
»Ari, gillir, weiche!« Fast beschwörend hob Viviane die Hände. Sie hielt dem Blick des Adlers stand. Der Vogel stutzte einen Augenblick, dann hob er schwerfällig ab, als könnte er kaum noch fliegen. Der Boden war nicht sein Reich. Mit wenigen kräftigen Flügelschlägen schraubte er sich in die Höhe. Er stieß einen klagenden Schrei aus, bevor er verschwand.
Viviane stürzte zu dem toten Hasen und hob ihn triumphierend in die Höhe. Dann band sie ihn an den Hinterläufen zusammen, hängte ihn an den Knüppel und beeilte sich, zur Höhle zurückzukommen. Sie hoffte, das Feuer war in der Zwischenzeit nicht erloschen.
Jetzt bemerkte sie Schnee und Kälte nicht mehr. Das Jagdfieber hatte sie erhitzt. Sie hockte sich neben die Feuerstelle, nachdem sie die Flammen wieder entfacht hatte, und häutete mit dem kleinen Messer den
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