Wogen der Sehnsucht
der alten Samtcouch fallen und stellte den Fernseher an. Über den Bildschirm flimmerten Bilder irgendeines weit entfernten Unglücks. Leute gruben sich mit bloßen, vom Staub grauen Händen durch Schuttberge, die einmal ihre Häuser gewesen waren. Die Geräusche, die nur gedämpft durch die Fernsehlautsprecher drangen, sprachen vom kollektiven Schmerz der Menschen, von unermesslichem Leid.
Ein Erdbeben, hieß es in dem Nachrichtenlaufband unten auf dem Bildschirm. In einer entlegenen nördlichen Region von Khazakismir. Hunderte Tote wurden befürchtet. Die autoritäre Stimme des Nachrichtensprechers beschrieb die entsetzlichen Details der Naturkatastrophe, die einen Landstrich zerstört hatte, der sonst von Bomben und Maschinengewehren heimgesucht wurde. Eine Hilfsorganisation, die im Dorf bereits eine Krankenstation errichtet hatte, helfe jetzt bei der Suche nach den Vermissten, bis internationale Hilfe eintreffe, hieß es.
Wie betäubt starrte Lily auf den Fernseher, und ihr eigener Schmerz kam ihr angesichts des Leids, das sie dort sah, beinahe unwichtig vor. Das Leben war schmerzhaft. Alles, was man tun konnte, war, jemanden zu finden, der einen festhielt.
Und zu hoffen, dass man ihn nicht wieder verlor.
Als das Handy neben ihr klingelte, sprang Lily vor Schreck hoch und griff in der irrationalen Hoffnung danach, es wäre vielleicht Tristan. Aber die Stimme am anderen Ende war weiblich. Enttäuschung traf sie wie ein Schlag in den Magen, und sie sank zurück auf die Couch und stellte den Ton des Fernsehers ab, damit sie die Frau besser verstehen konnte.
„Señor Romero?“
„Nein, tut mir leid. Er ist nicht hier.“
„Aber das ist doch sein Handy, oder? Ich muss ihn wirklich dringend sprechen. Es ist ein Notfall.“
Überrascht wurde Lily klar, dass das Handy in ihrer Hand tatsächlich Tristan gehörte. Er musste es aus Versehen vergessen haben, als er vorhin den Anruf entgegengenommen hatte.
„Ja, das ist sein Handy, aber ich fürchte, er ist schon vor …“, sie blickte auf die Uhr über dem Kamin, „… vielleicht fünf oder sechs Stunden gegangen.“ Länger nicht? Es schien Tage her, seit sie mit der Sozialarbeiterin in der Sonne gesessen hatten. „Ich erwarte ihn nicht sehr bald zurück“, fügte Lily niedergeschlagen hinzu.
„Wissen Sie, wo er hingefahren ist?“
Sie ist Spanierin, registrierte Lily. Sie klang jung und selbstbewusst und sexy. Nicht wie jemand, der im Halbdunkeln todtraurig auf dem Sofa hockte. „Er ist gegangen, weil er dringend im Büro gebraucht wurde. Sie können es bei der Bank versuchen“, erklärte sie und fragte sich, warum sie dieser Frau eigentlich half, mit ihrem Mann Kontakt aufzunehmen.
„Nein“, erwiderte die Stimme ungeduldig. „Ich rufe von der Bank aus an. Ich bin Bianca, seine Sekretärin. Er ist nicht hier, und es gab auch keine dringende Angelegenheit, bei der er gebraucht wurde. Bis jetzt. Señora, ich muss ihn wirklich finden. Es geht um seinen Vater – er hatte einen Herzanfall und liegt im Krankenhaus. Señora, sind Sie noch da?“
Lily hörte sie.
Aber sie war unfähig zu antworten. Langsam ließ sie das Telefon nach unten gleiten und hielt es vor die Brust gepresst, während sie in der Abenddämmerung stand und fassungslos auf den hellen Bildschirm vor ihr starrte.
Ein Reporter stand mit ernstem Gesichtsausdruck zwischen den Ruinen dessen, was einmal ein Dorf gewesen war, und sein Mund öffnete und schloss sich, während er in die Kamera sprach. Hinter ihm gruben sich Arbeiter mit ihren bloßen Händen durch das Geröll.
Tristan.
Einer von ihnen war Tristan.
13. KAPITEL
Lilys erster Gedanke war, dass es jemand anders sein musste. Jemand, der groß und dunkelhaarig war, mit den gleichen hohen Wangenknochen und dem gleichen kantigen Kinn. Aber dann sah sie, wie er sich aufrichtete, den Arm hob und Anweisungen gab, sich mit der Hand über das Gesicht fuhr und schließlich kurz und erschrocken in die Kamera blickte.
Dann wandte er sich wieder ab, und die Kamera schwenkte zurück ins Studio nach London. Lily wurde bewusst, dass sie vor dem Fernseher kniete. Sie blinzelte, und ihre Augen brannten. Plötzlich erinnerte sie sich daran, dass sie noch immer das Handy in der Hand hielt.
„Bianca? Tut mir leid, ich bin noch da. Was sagten Sie?“
„Sein Vater ist sehr krank, Señora. Sie wissen noch nicht, ob er es überlebt. Ich muss Señor Romero darüber informieren, aber ich weiß nicht, wo ich ihn finden kann.“
„Schon gut“,
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