Wogen der Sehnsucht
meine nicht seine körperliche Kraft, sondern die Art von Aura, die er ausstrahlt und die einem sagt, dass man bei ihm sicher ist. Dass er sich um einen kümmert und dass irgendwie alles wieder gut werden wird, weil er dafür sorgt, dass es wieder gut wird …“
„Danke schön, querida …“
Die trockene, heisere Stimme ließ Lily zusammenzucken. Sie drehte sich auf ihrem Stuhl um und sah Tristan an der Terrassentür stehen. Er trug einen Anzug, aber keine Krawatte mehr und hielt sein Jackett über der Schulter. Einen Moment lang trafen sich ihre Blicke, und Lily spürte die übliche Schüchternheit, die sie jedes Mal überkam, wenn sie ihn sah. Dann erinnerte sie sich Miss Squires und des Zweckes ihres Besuchs und stand verlegen auf.
Vielleicht dachte Tristan zur gleichen Zeit daran, denn als sie zu ihm ging, umarmte er sie liebevoll und küsste sie fest auf den Mund, lange genug für einen Ehemann, der fort gewesen war und seine Frau vermisst hatte.
Lily empfand eine tiefe Dankbarkeit.
Und Liebe natürlich. Aber sie war dabei, sich dieses besonders destruktive Gefühl wieder abzugewöhnen.
„Darling, ich möchte dir Miss Squire vorstellen. Sie bearbeitet von jetzt an unseren Fall. Ich koche uns schnell noch eine Kanne Tee.“
Tristan beugte sich vor und nahm Miss Squires schlaffe Hand in seine, und bevor Lily in die Küche verschwand, sah sie noch, wie die Wangen der älteren Dame sich röteten. Als er sich setzte, schob Miss Squire völlig unnötigerweise noch einmal ihre Papiere zusammen.
„Also, Mr. Romero, ich bin froh, dass Sie sich zu uns gesellen“, erklärte sie etwas hektisch. „Ich hatte bereits die Gelegenheit, mich ein wenig mit Ihrer Frau zu unterhalten, deshalb wird es jetzt Zeit, etwas mehr über Sie zu erfahren. Warum erzählen Sie mir nicht einfach ein bisschen über Ihre Eltern?“
„Was wollen Sie wissen?“
Tristan fühlte sich gefangen in seinem ganz persönlichen Albtraum. Eine individuell zugeschnittene Version seiner eigenen Hölle, deren Elemente sorgfältig von Sadisten ausgewählt worden waren, die alle seine Schwächen kannten und seine schlimmsten Ängste bloßstellen wollten.
Und diese spezielle Sadistin steckte in einem harmlos aussehenden, handgestrickten Pullover und nannte sich Sozialarbeiterin. Tristan blickte zu den Blättern des Kirschbaumes hinauf und versuchte vergeblich, sich zu entspannen. Lilys Garten war wunderschön, und normalerweise fand er das Haus in Primrose Hill nach einer anstrengenden Arbeitswoche in Barcelona oder einem Besuch bei einem der Hilfsprojekte, die er zusätzlich zu dem in Khazakismir in zwei afrikanischen Staaten eingerichtet hatte, sehr beruhigend. Aber nicht heute …
Die Stimme der Sozialarbeiterin riss ihn aus seinen Gedanken. „Was für eine Art Kindheit hatten Sie?“
Tristan lächelte leer. „Eine sehr privilegierte. Ich bin in einem großen Haus mit Dienstboten und Swimmingpool aufgewachsen. Wir hatten sehr viel Glück.“
„Wir? Wer ist wir, Mr. Romero? Sie und Ihre Geschwister?“
Tristan spürte, wie das Lächeln auf seinen Lippen zu ersterben drohte, und es kostete ihn Mühe, es dort zu belassen. „Ich und … mein Bruder.“
„Nur einer?“
Lily kam mit einem Tablett aus dem Haus. Sie trug eine einfache weiße Bluse und einen kurzen Bauwollrock mit aufgedruckten Gänseblümchen. Die Sachen ließen sie frisch und rein und süß aussehen. Tristan spürte, wie sich sein Herz zusammenzog.
Er musste das für sie tun.
„Ja“, sagte er angespannt. „Nur einer. Nico. Er ist zehn Jahre jünger als ich. Er arbeitet für eine Wohltätigkeitsorganisation in Madrid.“
Miss Squire schrieb alles mit, und Tristan war froh, dass ihr Blick sich zumindest für einen Moment nicht mehr auf ihn richtete.
„Nicht in der Bank?“
„Nein.“ Dafür hatte Tristan gesorgt. Er hatte sein Studium und alles aufgegeben, was er im Leben hatte tun wollen, um dafür zu sorgen.
„Was machen Ihre Eltern? Stehen sie Ihnen nahe?“
Vorsichtig stellte Lily eine blassblaue Teekanne vor ihn auf den Tisch. Tristan rieb sich mit den Fingern müde über die Augen. „Warum wollen Sie das alles wissen?“
„Das gehört bei einem Adoptionsverfahren dazu, Mr. Romero“, erklärte Miss Squire leicht irritiert. „Sie haben die Informationstage doch mitgemacht, wo man Ihnen etwas über die Probleme erzählt, die Kinder im Adoptionssystem haben können, nicht wahr?“
Tristan versuchte, keine Grimasse zu schneiden, als er an die drei
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