Wogen der Sehnsucht
während ihn die schrecklichen Erinnerungen überwältigten, und Tristan presste in einer hilflosen Geste die Faust gegen seine Stirn. Lily saß jetzt auf dem Rand ihres Stuhls und hatte sich ihm zugewandt, hielt seine Hand fest in ihren Händen.
„Brüder?“, wollte Miss Squire wissen, und Tristan spürte, wie sein Blut sich in Eis verwandelte. „Ich dachte, Sie hätten nur einen?“
Das muss man ihr lassen, dachte Tristan. Sie hatte gesagt, dass die Wahrheit ohnehin ans Licht kommen würde. Er hob den Kopf und blickte der Sozialarbeiterin mit einem bitteren Lächeln in die Augen.
„Jetzt habe ich nur noch einen. Aber früher waren wir zu dritt. Mein älterer Bruder Emilio war der eigentliche Romero-Erbe. Er hätte den Titel und die Position in der Bank bekommen sollen.“
„Was ist mit ihm passiert?“, flüsterte Lily.
„Einen Tag vor seinem einundzwanzigsten Geburtstag brachte er sich um.“
12. KAPITEL
„Er konnte es nicht mehr ertragen, verstehen Sie. Den Druck, der Romero-Erbe zu sein, und die Position in der Bank, deshalb hat er …“
Tristans Stimme klang, als hätte er zerbrochenes Glas verschluckt. Taub vor Entsetzen sprang Lily auf, sodass ihr Stuhl nach hinten auf den Boden kippte. „Tristan, hör auf!“, sagte sie mit gepresster Stimme. Sie stellte sich hinter ihn und schlang die Arme um seine Schultern, wollte ihn ganz festhalten. „Bitte, hör auf … du musst nichts mehr sagen.“
Ihnen gegenüber hatte Miss Squire den Blick abgewandt und machte sich noch mehr Notizen.
Tristan war ganz steif in ihren Armen und so reglos, als hielte sie einen Steinblock umschlungen. Und dann machte er sich ganz langsam von ihr los und stand auf. Lily konnte sein Gesicht nicht sehen, weil sie hinter ihm stand, aber seine Stimme klang wie schwarzes Eis.
„Es tut mir leid.“
Die angespannte Stille, die folgte, wurde vom Schellen eines Handys unterbrochen, was sie alle zusammenzucken ließ. Es war Tristans, und er holte es aus der Tasche seines Jacketts, das an der Stuhllehne hing. „Tut mir leid“, sagte er erneut, aber diesmal war seine Stimme völlig emotionslos. „Das ist ein wichtiger Anruf.“ Er verschwand im Haus.
Miss Squire schob ihre Papiere zusammen und legte sie in einen Ordner. „Nun, ich glaube, wir können es erst einmal dabei belassen.“ Sie wich Lilys Blick aus, und für einen Moment hasste Lily sie beinahe dafür, dass sie Tristan gezwungen hatte, über all diese Dinge zu sprechen. Aber vielleicht war es auch gut. Denn jetzt kannte Lily endlich den Grund für sein Verhalten.
„Danke für den Tee, Mrs. Romero, und ich melde mich dann wegen eines weiteren Treffens bei Ihnen“, sagte Miss Squire, als Lily sie an der Haustür verabschiedete. „Falls Sie und Ihr Mann sich dazu entschließen, mit der Adoption fortzufahren, meine ich.“
Lily schloss die Haustür hinter ihr und blickte zu Tristan auf, der in den Flur getreten war.
„Ich muss gehen.“
Sie erstarrte, und die Worte, mit denen sie sich bei ihm entschuldigen wollte, erstarben auf ihren Lippen. Da war etwas schrecklich Trostloses an der Art, wie er es sagte. Etwas Endgültiges, das keine weiteren Diskussionen zuließ. Sein Gesicht sah wächsern aus, und seine Lippen waren weiß.
„Tristan, was ist los? Was ist passiert?“
Er schüttelte schnell den Kopf und wich ihren Händen aus, die sie ihm entgegenstreckte, als wollte er ihr ausweichen.
„Ein Notfall. Dimitri wartet draußen. Es tut mir leid, ich muss sofort gehen.“ Er wandte sich ab und ging zur Haustür. „Es ist wahrscheinlich auch besser so.“
„Wie meinst du das?“
Er zuckte mit den Schultern, und seine Niedergeschlagenheit machte ihr Angst. „Ich habe alles ruiniert.“
„Nein“, erklärte Lily heftig. „Ich hätte dich niemals darum bitten sollen. Das war dumm und selbstsüchtig von mir.“
Er lachte rau auf. Seine Hand lag auf dem Griff der bereits geöffneten Haustür, und seine Gelenke schimmerten weiß. „Nach dem, was … mit dem Baby passiert ist, musste ich dir helfen. Wie hätte ich dir nicht helfen können?“
Lily spürte, wie sich Schmerz und Verzweiflung in ihr ausbreiteten.
Pflichtgefühl. Deshalb hatte er das für sie getan.
Natürlich.
Sie hielt den Blick auf das lange schwarze Auto gerichtet, das bedrohlich näher kam. Dimitris ausdrucksloses Gesicht war hinter der Scheibe zu erkennen.
„Du gehst jetzt besser.“
„Ja.“
Er zögerte, den Kopf gesenkt, so als wollte er noch etwas anderes sagen. Lily
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