Wohin das Herz uns trägt
machen. Ihre Affäre mit ihm war wie alle anderen gewesen - leidenschaftlich und im Handumdrehen vorbei. In letzter Zeit sah man ihn immer weniger ausgehen, und anscheinend verwandelte er sich in eine Spezies, die in einer Kleinstadt äußerst selten zu finden ist - einen Einzelgänger. Ellie fand das ausgesprochen mysteriös. Das ganze gute Aussehen für nichts und wieder nichts. Wenn das keine Verschwendung war.
»Tja«, stieß er schließlich hervor und fuhr sich mit der Hand durch die stahlgrauen Haare.
Ellie trat neben ihn. Als sie in seine blauen Augen blickte, sah sie, wie müde er war. Kein Wunder. Sie hatte gehört, dass man ihn erst vor ein paar Stunden von einer Felswand weggerufen hatte. Er war direkt hierher gefahren, ohne sich umzuziehen. Nicht mal seinen weißen Kittel hatte er übergestreift, sondern erledigte seine Arbeit in einer alten, ausgeblichenen Levis und einem schwarzen T-Shirt. Die grauen Locken waren feucht und zerzaust, aber wie immer waren es seine leuchtend blauen Augen, die alle Aufmerksamkeit auf sich zogen. Wenn er einen anschaute, kam man sich vor, als wäre man außer ihm der einzige Mensch im Raum. Selbst jetzt, wo er so erschöpft wirkte, war er der bestaussehende Mann, der Ellie je über den Weg gelaufen war.
»Also, was kannst du mir sagen, Max?«
»Die Kleine ist stark unterernährt und dehydriert. Den Flüssigkeitsmangel können wir ziemlich schnell beheben, aber die Unterernährung ist ernst.« Er hob das nicht fixierte Handgelenk des Mädchens an und fuhr mit dem Finger darüber. Neben seiner gebräunten Haut sah die des Mädchens nicht nur schmutzig, sondern fleckig und grau aus.
Ellie schlug ihr Notizbuch auf. »Ist sie indianischer Herkunft?«
»Eher nicht. Ich denke, dass die Haut unter dem ganzen Dreck weiß ist.« Er ließ das Handgelenk des Mädchens los und ging zum Fußende des Betts, wo er vorsichtig ihr rechtes Bein am Knie hochhob. »Hast du die Narben an ihrem Knöchel gesehen?«
Ellie beugte sich näher heran. Unter der Schmutzschicht sah sie einen dicken, verfärbten Streifen Narbengewebe. »Fesselspuren.«
»Zu neunundneunzig Prozent würde ich sagen, ja.«
Peanut schnappte hörbar nach Luft. »Das arme Ding war also angebunden?«
»Und zwar vermutlich über einen langen Zeitraum. Die Narben sind schon älter, auch wenn die Schnitte drumherum ziemlich frisch zu sein scheinen. Auf dem Röntgenbild ist außerdem ein schlecht verheilter Bruch am linken Unterarm zu erkennen.«
»Dann haben wir es also nicht mit einem gewöhnlichen Kind zu tun, das im Naturpark von den Eltern ausgebüchst ist und sich verlaufen hat?«
»Ich fürchte nicht.«
»Irgendwelche Hinweise auf sexuellen Missbrauch?«
»Nein. Nichts.«
»Gott sei Dank«, flüsterte Ellie.
Max schüttelte den Kopf und seufzte leise. »Ich hab schon eine Menge schlimme Sachen gesehen, Ellie, aber so was noch nie.«
»Was kannst du für sie tun?«
»Das ist nicht gerade mein Spezialgebiet.«
»Ach komm schon, Max ...«
Er blickte auf das Mädchen hinab. Ellie sah etwas in seinen Augen - war es Traurigkeit? Oder gar Angst? Bei Max wusste man das nie so genau. »Ich könnte ein paar Untersuchungen machen - Hirnwellen, Blutproben, all so was. Wenn sie bei Bewusstsein wäre, könnte ich sie beobachten, aber ...«
»Der alte Kindertagesraum steht leer«, meldete sich Peanut zu Wort. »Da könntest du sie dir durchs Fenster ansehen.«
»Richtig. Lass sie dorthin bringen, Max. Aber schließ die Tür ab, sonst versucht sie am Ende noch zu fliehen. Mel und Earl werden sich in der Stadt mal umhören, sie finden bestimmt heraus, wer die Kleine ist. Vielleicht verrät sie es uns ja auch selbst, wenn sie aufwacht.«
Max drehte sich zu ihr um. »Wir stehen vor einem Rätsel, und das weißt du auch, Ellie. Vielleicht sollten wir uns lieber ans FBI wenden.«
Aber Ellie sah ihn fest an. »Nein, kommt nicht infrage, mit einem verschwundenen Mädchen werde ich schon alleine fertig.«
Kapitel 3
Julia stand vor dem großen Spiegel in ihrem Schlafzimmer und betrachtete sich kritisch. Sie trug einen dunkelgrauen Hosenanzug und eine hellrosa Seidenbluse, ihre blonden Haare hatte sie zurückgesteckt, wie sie es immer tat, wenn sie Patienten empfing. Nicht, dass es davon noch sonderlich viele gab. Die Tragödie von Silverwood hatte sie mindestens siebzig Prozent ihres Klientenstamms gekostet. Gott sei Dank gab es noch ein paar, die ihr weiterhin vertrauten, und die würde sie nie im Stich lassen.
Sie nahm
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