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Wohin das Herz uns trägt

Wohin das Herz uns trägt

Titel: Wohin das Herz uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Hannah
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bin.«
    »Gehen wir nach unten. Für diese Story genehmige ich mir lieber ein Bier.« Kurz vor der Treppe drehte sie sich noch einmal um und setzte hinzu: »Du wirst auch eins brauchen, glaub mir.«
    * * *
    Julia saß im Lieblingsstuhl ihrer Mutter und lauschte dem Bericht ihrer Schwester mit wachsender Skepsis. »Sie springt von Ast zu Ast wie eine Katze? Ach komm, El. Du lässt dich von irgendeinem Ammenmärchen einwickeln. Wie es sich anhört, habt ihr ein autistisches Kind gefunden, das von zu Hause abgehauen ist und sich verirrt hat.«
    »Max glaubt nicht, dass es so einfach ist«, entgegnete Ellie und nippte an ihrem Bier. Inzwischen unterhielten sie sich schon seit fast einer Stunde. Auf dem Couchtisch lagen Papiere, Fotos, Fingerabdrücke und Berichte über vermisste Kinder.
    »Wer ist Max?«
    »Er hat Doc Fischers Praxis übernommen.«
    »Wahrscheinlich übersteigt das Ganze bloß seinen Horizont. Du hättest bei der University of Washington anrufen sollen, die haben jede Menge Autismusspezialisten.«
    »Ja, Gott behüte, dass ein intelligenter Mensch in Rain Valley leben könnte«, sagte Ellie, und in ihrer Stimme klang eine gewisse Schärfe an. »Du hörst mir ja nicht mal richtig zu.«
    Sofort riss Julia sich am Riemen und nahm sich vor, in Zukunft mit ihren Kommentaren besser aufzupassen. »Entschuldige. Es ist also mehr an der Geschichte dran als dreckige Haare und erstaunliche Kletterkünste. Was haben wir noch?«
    »Sie spricht nicht. Wir glauben - oder Max glaubt das jedenfalls -, dass sie es vielleicht gar nicht kann.«
    »Das ist bei Autismus nicht ungewöhnlich. Autisten scheinen oft in einer anderen Welt zu leben. Diese Kinder sind ...«
    »Du hast sie noch nicht gesehen, Jules. Als sie mich angeschaut hat, habe ich auf der Stelle eine Gänsehaut gekriegt. Ich hab noch nie so ... so viel Angst in einem Kind gespürt.«
    »Dann hat sie dich also angeschaut?«
    »Ja, angestarrt, besser gesagt. Ich glaube, sie hat versucht, mir etwas mitzuteilen.«
    »Sie hat also ganz bewusst Blickkontakt mit dir aufgenommen?«
    »Hallo-oo, das hab ich doch gerade gesagt!«
    Wahrscheinlich hatte es nichts zu bedeuten, vielleicht hatte Ellie sich auch geirrt. Allerdings sahen Autisten einem anderen Menschen äußerst selten direkt in die Augen. »Was war mit ihren körperlichen Eigenarten? Handbewegungen, Gang, all so was?«
    »Sie hat drei Stunden auf dem Baum gesessen, ohne auch nur den kleinen Finger zu bewegen. So wie ein Reptil, etwa in der Art. Nachdem sie runtergesprungen war, ist sie gerannt wie der geölte Blitz - laut Daisy Grimm ist sie schnell wie der Wind. Und sie hat an allem so seltsam herumgeschnüffelt, wie ein Hund.«
    Unwillkürlich erwachte Julias Interesse. »Vielleicht ist sie ja stumm. Taubstumm. Das würde dann auch erklären, dass jemand sie verloren hat. Womöglich hat sie überhaupt nicht gehört, wie nach ihr gerufen wurde.«
    »Sie ist nicht stumm, sie hat geschrien und geknurrt. Oh, ja, und als sie dachte, wir hätten den Wolf getötet, da hat sie geheult.«
    »Welchen Wolf?«
    »Hab ich den Teil vergessen? Sie hatte einen Wolfswelpen bei sich. Der ist jetzt draußen im Tierpark. Floyd sagt, er sitzt Tag und Nacht am Tor und heult.«
    Julia lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Allmählich reichte es ihr. Was für eine Lügengeschichte ihre Schwester da auftischte, um die arme kleine Julia zu retten! »Das hast du dir ausgedacht.«
    »Schön wär‘s! Aber leider stimmt alles.«
    »Sie hat also wirklich einen Wolfswelpen?«
    »Ja. Und bist du bereit für den absoluten Hammer?«
    »Wie - noch mehr?«
    »Sie hat jede Menge Narben.«
    »Was denn für Narben?«
    »Von Stichverletzungen. Vielleicht auch von einer ... Peitsche. Außerdem hat sie Narben auf dem Knöchel, die aussehen, als wäre sie längere Zeit gefesselt gewesen.«
    Julia löste die Arme wieder und beugte sich vor. »Du solltest unbedingt bei der Wahrheit bleiben. Was du mir hier erzählst, ist keine Kleinigkeit.«
    »Ich weiß.«
    Im Kopf hakte Julia verschiedene Möglichkeiten ab. Autismus. Mentale Störungen. Entwicklungsverzögerungen. Frühe Formen der Schizophrenie. Das waren die leichten, inneren Ursachen. Aber es konnte sich auch um etwas viel Bedrohlicheres, Selteneres handeln. Vielleicht war das Kind gequält worden und seinem Peiniger entflohen. Selektiver Mutismus, eine Art freiwilliges Verstummen, war eine häufige Reaktion nach einem derartigen Trauma. Auf alle Fälle brauchte dieses Kind Hilfe. Und

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