Wohin das Herz uns trägt
etwas zurück.
Finger kamen unter dem Bett hervor, dann eine ganze Hand. Nach einigen langen Momenten kroch ein Kind hervor. Es trug ein verschossenes Krankenhaushemd, das ihm viel zu groß war.
Es war ein Mädchen mit langen, verfilzten schwarzen Haaren und tief gebräunter Haut. Selbst aus der Entfernung konnte man das silbrig glänzende Netzwerk von Narben auf Armen und Beinen sehen. Ihr Körper war geduckt, als wäre sie es gewohnt, auf allen vieren zu gehen. Nach jedem Schritt hielt sie inne und verharrte vollkommen regungslos, nur den Kopf legte sie mit einer raschen, verstohlenen Bewegung schief. Dann schnupperte sie in die Luft, als folge sie dem Duft des Essens. Am Tisch angekommen, stürzte sie sich wie ein wildes Tier auf die Speisen. Während sie aß, entspannte sie sich keine Sekunde, sondern ließ die Augen unablässig im Zimmer umherwandern und witterte gelegentlich.
Julia spürte, wie es ihr kalt über den Rücken lief. Vorsichtig öffnete sie ihre Mappe und holte Notizbuch und Stift hervor. Ohne das Kind aus den Augen zu lassen, begann sie Aufzeichnungen zu machen. »Was wissen wir über sie?«
»Nichts«, antwortete Ellie. »Sie ist einfach so in die Stadt gekommen. Daisy Grimm meint, sie hätte was zu essen gesucht.«
»Aus welcher Himmelsrichtung?«
Jetzt antwortete Max. »Aus dem Wald.«
Aus dem Wald. Julia konnte sich gut an den Olympic National Forest erinnern. Hunderttausende Hektar moosige Dunkelheit, zu einem großen Teil unerforscht. Das Reich von Mythen und Legenden, wo es noch Zeichen und Wunder gab. Bigfoot-Territorium.
»Wir glauben, dass sie dort einige Tage herumgeirrt ist«, sagte Ellie.
Julia antwortete nicht. Dieses Kind hatte garantiert nicht nur ein oder zwei Tage allein im Nationalpark zugebracht. »Hat sie mit euch gesprochen?«
Max schüttelte den Kopf. »Nein. Wir glauben, sie versteht uns auch nicht. Sie bleibt die ganze Zeit unter dem Bett. Als sie bewusstlos war, haben wir sie gebadet und ihr eine Windel angezogen, aber seither sind wir ihr nicht nahe genug kommen, um sie wechseln zu können. Sie hat bislang auch keinen Versuch unternommen, die Toilette zu benutzen.«
»Hmm«, machte Julia, während sie spürte, wie das Adrenalin durch ihre Adern rauschte. »Dann wollen wir doch mal sehen, womit wir es zu tun haben, ja?« Sie wandte sich an ihre Schwester. »Hol mir doch bitte eine Auswahl an Schokolade und Karamell aus der Cafeteria. Und ein Stück Apfel- und Schokokuchen.«
»Sonst noch was?«
»Ja. Puppen. Jede Menge. Am besten solche, die man an- und ausziehen kann. Aber keine Barbies. Schmusepuppen. Und ein Kuscheltier. Du hast gesagt, sie hatte einen Wolfswelpen dabei, richtig? Dann besorg bitte einen Kuschelwolf.«
»Geht klar. Also bis gleich«, versprach Ellie und eilte davon.
Julia wandte sich Max zu. »Erzählen Sie mir doch bitte etwas über die Fesselmale an ihrem Knöchel.«
»Ich glaube ...« Die Sprechanlage unterbrach ihn und rief ihn in die Notaufnahme.
Rasch drückte er Julia die Akte in die Hand. »Hier steht alles drin, Julia, Es ist allerdings keine sehr erfreuliche Lektüre. Wir können uns gern nachher treffen und darüber sprechen, wenn ...«
»Die Akte genügt für den Moment, danke.« Damit schlug sie den Ordner auf und begann zu lesen. Dass Max ging, merkte sie kaum.
Die ganze erste Seite war ein umfassender Katalog über die Narben des Kindes, unter anderem eine schlecht verheilte Stichwunde in der linken Schulter.
Max hatte recht. Zu lesen, was dieses Kind durchgemacht hatte, war alles andere als leichte Kost.
Kapitel 5
Als Ellie das Krankenhaus verließ, hatte sich draußen wie nicht anders zu erwarten - eine Menschenmenge versammelt.
Die Leute standen in Formation, wie ein Landungskommando aus alter Zeit, mit den Schwestern Grimm in einem losen Dreieck an der Spitze. Wie immer hatte Daisy die Führung übernommen. Heute trug sie ein geblümtes Hauskleid unter einem dicken Pullover. Ihre grünen Gummistiefel reichten bis knapp ans Knie und endeten fünf Zentimeter unter dem Saum ihres Kleides. Ihr taubengraues Haar war zu einem derart festen Knoten zurückgesteckt, dass ihre Augen leicht nach oben gezogen wurden. Wie immer war sie mit einer Kette und Ohrringen in Gänseblümchenform geschmückt, wodurch ihr blasses, schrumpliges Apfelgesicht irgendwie noch kleiner wirkte.
»Chief Barton«, sprach sie Ellie an und trat würdevoll auf sie zu - so würdevoll es in Gummistiefeln eben ging, wenn man auch noch die Urne des
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