Wohin das Herz uns trägt
wurde leiser, sie warf Julia einen bedeutungsvollen Blick zu, dann bog sie in die Auffahrt ein. »Hier haben meine Eltern sich fast drei Jahrzehnte lang geliebt.«
Julia verkniff sich einen Widerspruch, aber sie wussten beide, dass das eine Lüge war. Eine Legende. »Dann hör doch einfach auf, damit zu drohen, dass du es verkaufen willst. Gesteh dir ein, dass du bleiben willst. Gib die Erinnerungen an deine eigenen Kinder weiter.«
»Wie du wahrscheinlich bemerkt hast, hab ich keine Kinder. Aber danke, dass du mich darauf aufmerksam machst.« Ellie fuhr auf den Hof und bremste scharf. »Da sind wir.«
Julia begriff, dass sie mal wieder das Falsche gesagt hatte. »Du brauchst keinen Mann, weißt du. Und schon gar keinen von der Sorte, wie du sie dir immer aussuchst«, sagte sie. »Ein Kind kann man auch allein aufziehen.«
Ellie drehte sich zu ihr um. »In der Großstadt mag das so sein, aber nicht hier, und auch nicht für mich. Ich will das ganze Programm - den Ehemann, das Baby, den Golden Retriever.« Sie grinste. »Immerhin hab ich schon zwei Hunde. Und ich wäre dankbar, wenn du meine Ehemänner nicht erwähnen würdest.«
Julia nickte. Zeit, das Thema zu wechseln. »Wie geht es denn Jake und Elwood überhaupt? Immer noch hinter den Mädchen her?«
»Sie sind Männer, was gibt es da sonst noch zu sagen?« Ellie lächelte, und Julia staunte erneut, wie schön ihre Schwester noch immer war. Obwohl Ellie neununddreißig war, hatte sie kein Fältchen um Augen und Mund. Ihre umwerfenden grünen Augen strahlten, ihr milchiger Teint war klar und rein, sie hatte ausgeprägte Wangenknochen und volle, sinnliche Lippen. Nicht einmal ihr kleinstädtischer, schlecht gestufter Haarschnitt konnte ihrer Schönheit Abbruch tun. Obendrein war sie zierlich, aber erstaunlich kurvenreich, und ihr Lächeln strahlte wie ein Halogenscheinwerfer. Kein Wunder, dass alle sie liebten.
»Komm mit.« Ellie stieg aus und knallte die Tür des Suburban hinter sich zu.
Julia wollte ebenfalls aussteigen, aber aus irgendeinem Grund konnte sie sich nicht von der Stelle rühren. Sie saß einfach da und starrte durch die Windschutzscheibe auf das Haus, in dem sie groß geworden war. In der Spätnachmittagssonne wirkte alles außer dem dunkelgrünen Waldrand golden und angenehm gedämpft.
Seit der Beerdigung ihrer Mutter war sie nicht mehr hier gewesen, und selbst damals war sie nur so lange geblieben, wie es absolut nötig war. Ihr Studium hatte ihr als unanfechtbare Ausrede gedient. Sie sagte nur: Ich muss zurück, weil ich Klausuren habe , und niemand hatte das infrage gestellt. Im Rückblick dachte sie allerdings, dass sie hätte bleiben sollen. Vielleicht hätten sie und ihre Schwester dann die Chance gehabt, einander näher zu kommen. Doch genau das Gegenteil war passiert, sie waren getrennt durch die Menge der Trauergäste marschiert. Schon in guten Zeiten wussten die Bürger von Rain Valley nicht recht, was sie mit Julia anfangen sollten, und in schlechten war es noch schwieriger.
Aber alle beteuerten ihr, wie stolz ihre Mutter auf ihre Berufswahl gewesen sei. Bei der dritten Wiederholung brach sie in Tränen aus und konnte nicht mehr aufhören. Selbstverständlich war es auch nicht besonders hilfreich gewesen, zu sehen, wie viel Unterstützung Ellie von ihren Freunden bekam, während Julia den ganzen Abend allein dagestanden und darauf gewartet hatte, dass ihr Vater ihr wenigstens ein bisschen Aufmerksamkeit zukommen ließ. Natürlich war sie enttäuscht worden. Er war der Mittelpunkt, der trauernde Witwer. Jeder nahm ihn in den Arm, küsste ihn auf die Wange und tröstete ihn mit der Behauptung, dass Brenda jetzt an einem besseren Ort sei.
Nur Julia schien die Lüge zu durchschauen, das ganze Theater. Als ihr Vater irgendwann weinend zusammenbrach, stürzten alle zu ihm - alle außer Julia. Schon als Kind hatte sie gesehen, was sonst keiner wahrgenommen hatte - allen voran Ellie: Dass der Egoismus ihres Vaters die Lebensfreude ihrer Mutter zerstört hatte, genau wie die seiner jüngeren Tochter. Lediglich Ellie hatte vom grellen Licht der Selbstsucht ihres Vaters profitiert.
Julia drückte den Türhebel heftig nach unten und stieg aus. Alles war genau so, wie es sich für den Oktober gehörte. Die Ahornbäume ließen ihre Blätter fallen und steuerten ihren Teil zu dem Herbstlied bei, das ihr genauso vertraut war wie das Rauschen und Plätschern des Flusses. In diesem Lied, dem Rascheln der fallenden Blätter, den knisternden
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