Wohin das Herz uns trägt
nicht jeder Psychologe konnte mit einer solchen Diagnose umgehen, nicht jeder wusste, welche Behandlung angezeigt war. An der Westküste waren nur eine Handvoll Therapeuten für so etwas qualifiziert. Zum Glück war sie eine von ihnen.
»Die Kleine geht mir echt nicht mehr aus dem Kopf, Jules, und ich habe Angst, dass wir sie verlieren, wenn sich die nationalen Großkotzbehörden einmischen. Die werden sie in irgendeine Institution sperren, bis wir die Eltern finden, und ich glaube, das würde ich nicht aushalten. Die Kleine hat so etwas ... Zerbrechliches und Trauriges an sich. Ich weiß nicht, ob sich jemals ein anderer Mensch für sie starkgemacht hat. Mit deiner Hilfe können wir sagen, wir behandeln sie und suchen gleichzeitig ihre Angehörigen. Deine Kompetenz kann keiner in Frage stellen.«
Mit einem Schlag landete Julia auf dem Boden der Realität.
»Hast du in letzter Zeit mal die Nachrichten gesehen, Ellie?«, fragte sie leise. »Ich stehe garantiert auf keiner Liste mehr ganz oben. Deine Großkotzbehörden - wie du sie nennst - sind wahrscheinlich nicht allzu erfreut, wenn ich an diesem Fall arbeite.«
Ellie sah sie an. Wie immer war in ihren Augen eine Direktheit, die einen leicht aus dem Konzept bringen konnte. Julias Schwester gehörte zu den Menschen, denen es leichtfiel, eine Entscheidung zu treffen, die bei ihrem Entschluss blieben und bis zum Ende für ihre Ansichten kämpften. Eine der wenigen Eigenschaften, die beide Schwestern gemeinsam hatten. »Seit wann kümmert es mich, was andere Leute denken? Wir wollen, dass du dieses Mädchen rettest.«
»Danke, Ellie.« Julias Stimme war leiser, als sie es beabsichtigt hatte, und klang weniger sicher als sonst. Wenn sie doch nur fähig gewesen wäre, Ellie verständlich zu machen, was diese Situation für sie bedeutete.
Ellie nickte. »Ich hoffe nur, dass du wirklich so gut bist, wie alle immer behaupten.«
»Das bin ich.«
»Sehr gut. Dann geh jetzt unter die Dusche und pack dein Zeug aus. Ich habe Max versprochen, dass wir vor vier im Krankenhaus sind.«
* * *
Dreißig Minuten später war Julia geduscht, geschminkt und trug zu ihren ausgeblichenen Jeans einen hellgrünen Kaschmirpulli. Sie bemühte sich, der Begegnung mit dem sogenannten Fliegenden Wolfsmädchen nicht allzu sehr entgegenzufiebern, aber sie schaffte es nicht ganz, ihre übliche Ruhe zu bewahren. So lange war sie jetzt schon außen vor, dass ein kurzer Blick in ihr altes Leben genügte, um sie auf Hochtouren zu bringen.
Sie holte sich eine Cola light aus dem Kühlschrank und setzte sich ins Wohnzimmer. Als sie zu dem staubigen Klavier in der Ecke schaute, wurde sie von einer Erinnerung überrascht - plötzlich sah sie ihre Mom auf der schwarzen Bank sitzen, eine Virginia-Slim-Mentholzigarette im Mund, während sie auf die Tasten hämmerte und eine wilde Version von »That Old Time Rock & Roll« zum Besten gab. Um das Klavier herum hatte sich eine Schar von Freunden versammelt, die alle lauthals mitsangen.
»Los, Mädels! «, hatte Mom ihnen zugerufen und sie zu sich gewinkt. »Kommt her und macht mit!«
Rasch wandte Julia dem Klavier den Rücken zu. Sie wollte nicht an Mom denken - noch nicht -, aber hier, in diesem Haus, löste sich der Zeitbegriff auf. Wenn sie zu lange blieb, würde sie sich wieder in den ungelenken Bücherwurm mit dem schlechten Haarschnitt und den dicken Brillengläsern verwandeln.
In ihrer blau-schwarzen Uniform kam Ellie die Treppe herunter. Die drei Sterne auf ihrem Kragen blitzten im Licht. Selbst in diesem unförmigen Aufzug wirkte sie graziös und wunderschön. »Fertig?«
Julia nickte und schnappte sich ihre Handtasche. Auf der kurzen Fahrt zum Krankenhaus unterhielten sie sich überraschend entspannt. Julia kommentierte die Veränderungen, die sie entdeckte - die Ampel, die neue Brücke, die Schließung der Imbissbude während Ellie auf alles hinwies, was gleich geblieben war.
Schließlich bogen sie um die Ecke, und hinter einem mittelgroßen Kiesparkplatz kam das Kreiskrankenhaus in Sicht, ein bescheidenes Betongebäude, das durch die Reihe riesiger Nadelbäume noch kleiner wirkte. Davor stand ein einziger Notarztwagen. Gerade gingen die Straßenlaternen an; alle paar Sekunden pulsierte ein Lichtstrahl über den Parkplatz und erleuchtete die winzigen Nebeltröpfchen, die man nicht wirklich als Regen bezeichnen konnte. Die Luft roch wie frisch gemähtes Gras.
Julia stieg sofort aus. Je näher sie der Tür kamen, desto selbstbewusster fühlte
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