Wohin das Herz uns trägt
Clowns. So machten sie sich auf den Weg zur Ausfahrt.
Keine wusste etwas zu sagen. Als die Landschaft sich änderte und vom Stadtgrau ins ländliche Grün überwechselte, merkte Julia, wie dumm sie es fand, dass sie sich ständig mit ihrer Schwester stritt. Warum fielen sie nach all den Jahren, die sie nun bereits getrennt voneinander lebten, augenblicklich wieder in ihre Kindheitsrolle zurück? Sie brauchten sich nur anzusehen, und schon waren sie wieder mitten in der Pubertät.
Sie waren eine Familie, und so unwirklich sich diese Verbindung manchmal auch anfühlte, mussten sie doch in der Lage sein, miteinander auszukommen. Hinzu kam, dass sie Psychologin war, also Spezialistin für zwischenmenschliche Dynamik, und trotzdem benahm sie sich wie die kleine Schwester, die die Großen nicht mitspielen lassen.
»Erklärst du mir, warum ich hier bin?«, fragte sie schließlich.
»Das erzähl ich dir zu Hause. Ich muss dir eine Menge Fotos zeigen, weil du mir sonst wahrscheinlich nicht glauben wirst.«
Julia sah sie an. »Dann geht es also doch um eine Rettungsaktion. Es gibt keinen wirklichen Grund, weshalb ich hier bin.«
»O doch. Wir haben ein kleines Mädchen, das deine Hilfe braucht. Aber es ist ... ziemlich kompliziert.«
Julia wusste nicht recht, ob sie ihrer Schwester glauben sollte, allerdings wusste sie, dass Ellie die Dinge auf ihre Art und in ihrem Tempo erledigte. Daher war es sinnlos, weiter in sie zu dringen. Besser, ein neutrales Thema anzuschneiden. Ein bisschen harmlose Konversation zu machen. »Wie geht es deiner Freundin Penelope?«
»Gut. Allerdings meint sie, ihre pubertierenden Kinder seien ein Nagel zu ihrem Sarg.« Kaum waren die Worte aus ihrem Mund, hätte Ellie sie am liebsten wieder zurückgenommen. Keine gute Idee, Kinder und Tod in einem Satz unterzubringen. »Entschuldige.«
»Kein Problem, Ellie. Jugendliche sind schwierig. Wie alt sind sie denn?«
»Sie hat einen vierzehnjährigen Sohn und eine sechzehnjährige Tochter.«
»Schwieriges Alter, beides.«
Ellie lächelte. »Das Mädchen - Tara - will ständig irgendwelche Körperteile piercen und tätowieren lassen. Das treibt Peas Mann halb in den Wahnsinn.«
»Und Penelope? Wie wird sie damit fertig?«
»Großartig. Na ja ..., wenn man mal davon absieht, dass sie ziemlich zugenommen hat. Im Laufe des letzten Jahres hat sie so ungefähr jede Diät probiert, die jemals erfunden wurde. Letzte Woche hat sie angefangen zu rauchen, weil das angeblich die Stars so machen.«
»Ja, rauchen und kotzen.«
Ellie nickte. »Wie geht es Philip?«
Überrascht stellte Julia fest, wie stark der Schmerz noch immer war, den dieser Name auslöste. Wenn sie doch nur sagen könnte: Er liebt mich nicht mehr. Als Psychologin war ihr klar, dass diese Art Ehrlichkeit ein guter Schritt wäre. Möglicherweise öffnete sich dadurch zwischen ihnen eine Tür, die bisher verschlossen gewesen war. Aber stattdessen antwortete sie nur: »Wir haben uns letztes Jahr getrennt. Ich bin - nein, ich war - zu beschäftigt, um noch Zeit für die Liebe zu haben.«
Ellie lachte laut. »Zu beschäftigt für die Liebe! Bist du verrückt?«
Die nächsten zwei Stunden verbrachten sie abwechselnd mit nichtssagender Konversation oder vielsagendem Schweigen. Julia bemühte sich, Fragen zu finden, mit denen sie ihrer Schwester näherkam, und Antworten zu vermeiden, die Barrieren aufbauten. Beide erwähnten ihren Vater möglichst wenig und machten auch einen Bogen um die Erinnerung an ihre Mutter.
Schließlich kamen sie zur Ausfahrt nach Rain Valley und verließen den Highway. Auf der kurvigen Waldstraße, die direkt in ihre Kindheit führte, wurde Julia immer nervöser. Hier unter den riesigen Bäumen fühlte sie sich wieder ganz klein. Klein und unbedeutend.
»Ich wollte das Haus eigentlich verkaufen und näher an die Stadt ziehen, aber jedes Mal, wenn ich kurz davor bin, eine derartige Entscheidung zu fällen, finde ich irgendwas, was dringend repariert werden muss«, sagte Ellie, als sie wieder aus der Stadt herausfuhren. »Und ich brauche keinen Psychologen, der mir sagt, warum ich Angst habe auszuziehen.«
»Es ist bloß ein Haus, Ellie.«
»Vermutlich sind wir da einfach verschieden, Jules. Für dich sind es drei Schlafzimmer, zwei Bäder und eine Wohnküche. Für mich ist es die beste Kindheit, die man sich vorstellen kann. Dort habe ich Libellen in einem Einmachglas gefangen und mir von meiner kleinen Schwester Blumen in die Haare flechten lassen.« Ihre Stimme
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