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Wohin das Herz uns trägt

Wohin das Herz uns trägt

Titel: Wohin das Herz uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Hannah
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wusste, wie Ausbeutung, Missbrauch und Alkohol einem Kind zusetzen konnten, wie Familien ihre Flexibilität verloren, bis sie schließlich auseinanderbrachen und die einzelnen Mitglieder halt- und orientierungslos zurückblieben. Aber am wichtigsten war, dass sie wusste, wie man sich als Außenseiter fühlte, und obwohl sie erwachsen war und sich in das Erwachsenenleben eingeordnet hatte, waren die schmerzlichen Erinnerungen für sie jederzeit abrufbar. Kinder und Jugendliche öffneten sich ihr, brachten ihr instinktiv Vertrauen entgegen, redeten mit ihr und ließen sich von ihr helfen.
    Zwar war sie weder auf Autismus noch auf die Rehabilitation von Hirnschädigungen, noch auf geistige Behinderung spezialisiert, aber sie hatte natürlich schon mit solchen Patienten gearbeitet. Sie kannte die besonderen Funktions- und Reaktionsweisen von Autisten.
    Sie wusste auch, wie seltsam gehörlose Kinder sich benahmen, wenn sie keine Zeichensprache gelernt hatten. Erstaunlicherweise gab es immer noch Gegenden in diesem Land - beispielsweise abgelegene Waldsiedlungen -, in denen taubstumme Kinder gänzlich ohne Kommunikationsfähigkeiten aufwuchsen.
    Aber das alles schien auf das Wolfsmädchen nicht zuzutreffen. Die Gehirnuntersuchung zeigte keine Verletzungen und Abnormalitäten, und so konnte es durchaus sein, dass die Kleine dort unter dem Bett ein ganz normales Kind war, das bei einem Tagesausflug verloren gegangen war und jetzt zu viel Angst hatte, etwas zu sagen.
    Ein völlig normales Kind, das mit einem Wolf umherzog, den Mond anheulte und offenbar nicht wusste, wofür eine Toilette da war.
    Julia legte den Stift weg. Sie hatte zu lange geschwiegen.
    Ihre größte Hoffnung auf Erfolg lag darin, Kontakt zu dem Mädchen herzustellen. Und das bedeutete Kommunikation. »Schließlich kann ich dich ja nicht verstehen, wenn ich immer nur hier sitze und schreibe, stimmt‘s?«, sagte sie mir sanfter, beruhigender Stimme.
    »Obwohl das eigentlich schade ist, denn ich schreibe gern. Wahrscheinlich malst du lieber. Das ist bei den meisten Mädchen in deinem Alter so. Nicht, dass ich genau wüsste, wie alt du bist. Dr. Cerrasin glaubt, du bist ungefähr sechs. Ich würde sagen, du bist ein bisschen jünger, aber andererseits konnte ich mir bis dato kein wirklich gutes Bild von dir verschaffen, richtig? Ich bin übrigens fünfunddreißig. Habe ich das schon erwähnt? Das kommt dir garantiert ziemlich alt vor. Offen gestanden hat sich das im Lauf des letzten Jahres für mich auch ziemlich alt angefühlt.«
    Die nächsten zwei Stunden redete Julia - über alles und nichts. Sie erklärte dem Mädchen, wo sie waren und warum sie hier waren - dass alle ihr helfen wollten. Es war nicht so wichtig, was sie sagte, es kam hauptsächlich darauf an, wie sie es sagte. Die darunterliegende Botschaft war immer die gleiche: Komm raus, Schätzchen, bei mir bist du in Sicherheit . Aber eine Reaktion blieb aus. Nicht mal ein Finger erschien unter dem Bett. Gerade wollte sie anfangen, darüber zu philosophieren, wie einsam man sich auf dieser Welt manchmal fühlte, als ein Klopfen an der Tür sie unterbrach.
    Von unter dem Bett kam ein scharrendes Geräusch.
    Hatte das Mädchen das Klopfen auch gehört?
    »Ich bin gleich wieder da«, sagte Julia sachlich. Dann ging sie zur Tür und öffnete.
    Dr. Cerrasin deutete mit dem Kopf auf die beiden weiß gekleideten Pfleger neben ihm. Einer hatte eine große Kiste auf dem Arm, der andere ein Tablett. »Das Essen und die Spielsachen sind hier.«
    »Danke.«
    »Noch immer keine Reaktion?«
    »Nein. Unmöglich, auf diese Weise zu einer Diagnose zu gelangen. Ich muss die Kleine beobachten. Aktion, Reaktion, Bewegung. Aber mit diesem verdammten Bett ist es nicht zu schaffen.«
    »Was sollen wir mit dem Zeug machen?«, fragte einer der Pfleger.
    »Ich nehme die Kuscheltiere. Den Rest können Sie erst mal wieder wegpacken, damit kann sie noch nichts anfangen. Stellen Sie das Essen bitte auf den Tisch. Ich möchte die Kleine nicht noch mehr verängstigen.« An Max gewandt, setzte sie hinzu: »Ist die Stadtbücherei immer noch ungefähr so groß wie mein Auto?«
    »Sie ist klein«, räumte er ein, »aber dank Internet hat man Zugang zu allem. Letztes Jahr ist die Bibliothek online gegangen.« Er schenkte ihr ein charmantes Lächeln. »Zur Feier des Tages gab es eine Parade.«
    In diesem Moment spürte sie plötzlich eine spontane Verbindung zwischen ihnen. Sie waren beide Außenseiter, die sich über die absurden

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