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Wohin das Herz uns trägt

Wohin das Herz uns trägt

Titel: Wohin das Herz uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Hannah
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kleinstädtischen Sitten amüsierten. Als sie merkte, dass er ihr ein Lächeln abgerungen hatte, trat sie zurück. »Eine Parade? Die gibt es doch immer.« Ursprünglich wollte sie noch etwas hinzufügen - was eigentlich? aber in diesem Moment ging ihr mit einem Mal ein Licht auf.
    Das Bett muss weg! Wie hatte sie das Offensichtliche nur so lange übersehen können?
    Blitzschnell drehte sie sich um und schloss die Tür, wobei sie erst im letzten Augenblick merkte, dass Max sie fast gegen die Nase bekommen hätte. Upps. Na ja, und wenn schon. Sie wandte sich an den Pfleger, der gerade das Tablett auf den Tisch stellte, und sagte: »Bringen Sie das Bett bitte weg, aber lassen Sie die Matratze hier.«
    »Häh?«
    »Wir sind keine Möbelpacker, Miss«, protestierte der andere Mann.
    »Doktor Gates«, korrigierte sie ihn. »Wollen Sie damit andeuten, dass Sie nicht stark genug sind, um mir zu helfen?«
    »Natürlich sind wir stark genug«, stammelte der größere Mann und stellte die Kiste mit den Kuscheltieren ab.
    »Gut. Wo liegt dann das Problem?«
    »Komm schon, Fredo. Schaffen wir das Bett raus, bevor Frau Doktor Cates hier einen Kühlschrank haben will.«
    »Danke. Aber seien Sie vorsichtig, unter dem Bett hat sich ein Kind versteckt. Machen Sie ihm bitte möglichst keine Angst.«
    Die Männer starrten sie verwundert an. »Warum sagen Sie ihm nicht, es soll rauskommen?«, fragte der eine.
    »Nehmen Sie einfach das Bett mit, bitte. Vorsichtig. Und legen Sie die Matratze dort in die Ecke.«
    Sie brachten die Matratze zu der Stelle, die sie ihnen zeigte, hoben das Bettgestell hoch und verließen damit das Zimmer. Hinter ihnen fiel die Tür mit einem Klicken ins Schloss, aber Julia achtete nicht darauf. Sie hatte nur Augen für ihre Patientin.
    Zusammengekauert hockte das Mädchen da und öffnete den Mund, um zu schreien.
    Komm, lass mich deine Stimme hören , forderte Julia sie im Stillen auf.
    Aber kein Ton kam heraus. Das Kind presste sich fest an die Wand und erstarrte. Vollkommen regungslos.
    Julia musste an ein Chamäleon denken, das mit seiner Umwelt verschmolz. Natürlich konnte das arme Kind seine Farbe nicht verändern, es konnte also nicht verschwinden, sondern war nur allzu sichtbar vor dem grau gesprenkelten Linoleumboden und der strahlend gelben Wand. Aber ansonsten schien sie wie aus hellem Holz geschnitzt. Das einzige Lebenszeichen war ein gelegentliches Blähen der Nasenflügel. Als würden sie Witterung aufnehmen.
    Zum ersten Mal bemerkte Julia, wie schön das Mädchen war. Auch wenn sie zum Erbarmen dünn war, war sie dennoch umwerfend schön. Sie starrte in Julias Richtung, ohne sie jedoch direkt anzusehen, so als stünde links von ihr ein gefährliches Raubtier, das sie im Auge behalten musste. Ihr Gesicht war ausdruckslos und gleichzeitig seltsam leidenschaftlich; es gab nichts preis, aber es entging ihm nicht das Geringste. Der Mund verzog sich nicht, kein Zeichen von Abneigung oder Neugier, und ihre Augen - faszinierende blaugrüne Augen - blickten ernst und wachsam.
    Überrascht nahm Julia das Fehlen von Angst in diesen Augen zur Kenntnis. Vielleicht sah sie die andere Seite der Angst vor sich. Was passierte mit einem Kind, für das Angst zum Alltag gehörte ...? Ging die Angst irgendwann in Wachsamkeit über?
    »Du siehst mich ja beinahe an«, stellte sie so beiläufig wie möglich fest. Blickkontakt war wichtig. Ohne einschneidende Therapie stellten Autisten ihn so gut wie nie her. In ihr Notizbuch vermerkte sie: Stumm ? Ihre Schwester hatte zwar gesagt, dass das Mädchen Laute von sich gab, aber davon hatte Julia selbst noch nichts gehört. Außerdem hatte ihre Schwester auch übernatürliche Spring- und Kletterkünste erwähnt. »Ich vermute, dass du Angst hast. Alles, was dir seit gestern passiert ist, war ja auch ziemlich furchterregend. Das würde jeden zum Weinen bringen.«
    Keine Reaktion. Nichts.
    Die nächsten zwölf Stunden verbrachte Julia still auf einem Stuhl. Sie beobachtete alles, was sie konnte, aber das war nicht viel, um die Wahrheit zu sagen. Anfangs bewegte sich die Kleine so gut wie überhaupt nicht. Um Mitternacht herum schlief sie ein, nach wie vor an die Wand gekauert. Als sie schließlich zu Boden sank, stand Julia vorsichtig auf und ging zu ihr, hob sie behutsam auf und trug sie auf die Matratze.
    Die ganze Nacht über sah sie dem Mädchen beim Schlafen zu und registrierte, wie oft sie schlecht träumte. Einmal döste auch Julia eine Weile, aber um sieben am nächsten

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