Wohin das Herz uns trägt
ergeben. Jetzt versuchen sie, die Suche einzugrenzen. Das genaue Alter des Mädchens würde helfen.«
Ellie nahm langsam Platz. Ihr Heldentraum schrumpfte in sich zusammen wie ein alter Luftballon. »Zehntausend vermisste Mädchen. Gott steh uns bei, Peanut. Wir brauchen Jahrzehnte, um die ganzen Informationen auszuwerten.«
»Dann nimm bitte zur Kenntnis, dass es in diesem Land pro Jahr achthunderttausend Fälle mit vermissten Kindern gibt. Das sind fast zweitausend Kinder pro Tag. Statistisch betrachtet sind fünfzig Prozent weiße Mädchen, die von einem ihnen bekannten Menschen entführt werden. Ist die Kleine denn wirklich weiß?«
»Ja.« Mit einem Mal fühlte Ellie sich angesichts der Zahlen und der Aufgabe machtlos. »Hat das FBI sich schon gemeldet?«
»Sie warten auf einen Beweis, dass es sich um eine Entführung handelt, oder auf eine zuverlässige Identifizierung. Es könnte ja einfach ein Mädchen aus Mystic oder Fork sein, das sich verlaufen hat. Theoretisch haben wir kein Indiz für ein Verbrechen, deshalb sollen wir noch mal in der Stadt herumfragen. Und die Fürsorge setzt uns unter Druck, temporäre Pflegeeltern zu benennen. Da müssen wir uns was einfallen lassen, die Kleine kann ja nicht ewig im Krankenhaus bleiben.«
»Hast du bei den privaten Hilfszentren angerufen?«
»Und beim Fernsehen, America‘s Most Wanted. Und beim Justizministerium. Morgen ist das Mädchen garantiert auf allen Titelseiten.« Peanuts Gesicht bekam Sorgenfalten. »Es wird nicht einfach sein, Julia zu verstecken.«
Die Geschichte würde einen riesigen Wirbel auslösen, daran bestand nun kein Zweifel mehr. Und wieder befand sich Dr. Julia Cates im Auge des Hurrikans.
»Nein«, bestätigte Ellie. »Das wird allerdings nicht leicht sein.«
* * *
Mädchen rollt sich an dem viel zu weißen Ort zusammen wie eine junge Farnpflanze. Der Boden ist kalt und hart. Manchmal schaudert sie und träumt von ihrer Höhle. Während sie geschlafen hat, haben die Fremden sie verwandelt. Jetzt riecht sie nach Blumen und nach Regen. Sie vermisst ihren eigenen Geruch.
Am liebsten würde sie die Augen zumachen und schlafen, aber es riecht hier so furchtbar falsch. Die meiste Zeit juckt ihre Nase, und ihr Hals ist so trocken, dass es beim Schlucken wehtut. Sie sehnt sich nach ihrem Fluss und nach dem Rauschen des Wassers, das über die Klippe fällt, ganz in der Nähe ihrer Höhle. Sie hört das Atmen von Ihr mit den Sonnenhaaren, und auch ihre Stimme. Die Stimme ist wie Donner, gefährlich und Angst einflößend. Wenn Mädchen sie hört, flitzt sie weg, dorthin, wo der Ort aufhört. Wenn sie ein Wolf wäre, könnte sie sich durchgraben und verschwinden. Der Gedanke macht sie traurig. Sie denkt an Sie. An Ihn sogar. Und an Wolf.
Ohne sie fühlt sie sich verloren. Sie kann an diesem Ort nicht leben, hier, wo es nichts Grünes gibt und die Luft so stinkt.
Sie hätte nicht weglaufen dürfen. Immerzu hat Er ihr eingeschärft, dass es außerhalb ihres Waldes kalt und böse ist, dass sie sich verstecken muss, denn Dadraußen gibt es Menschen, die kleinen Mädchen noch viel schlimmer wehtun, als Er es je getan hat. Fremde.
Sie hätte auf Ihn hören sollen, aber sie hat so lange Angst gehabt.
Jetzt werden sie ihr noch schlimmer wehtun als mit dem Netz.
Sie warten schon darauf, ihr wehzutun, sobald sie rauskommt, aber sie wird sich so klein machen, dass man sie nicht sehen kann. Wie ein grüner Käfer auf einem Blatt. So wird sie verschwinden.
* * *
Julia saß auf dem unbequemen Plastikstuhl in dem fröhlich-bunten Spielzimmer und starrte in das Notizbuch auf ihrem Schoß. Die ganze letzte Stunde hatte sie auf das Mädchen unter dem Bett eingeredet, aber keine Antwort erhalten. Ihr Notizbuch war weiterhin voller Fragen ohne Antworten.
Zähne - zahnärztliche Behandlungen?
Taub?
Stuhlgang - irgendwelche Hinweise auf Ernährung?
Stubenrein?
Narben?
Ethnische Herkunft?
Schon zu Anfang ihrer Ausbildung war es für jeden offensichtlich gewesen, dass Julia eine besondere Gabe hatte, mit traumatisierten und depressiven Kindern umzugehen. Nicht nur ihre Kommilitonen, auch ihre Lehrer hatten sich oft um Rat an sie gewandt. Offensichtlich konnte sie den extremen Druck gut nachempfinden, unter dem Kinder und Jugendliche in der modernen Welt standen, all die Belastungen, die viel zu häufig dazu führten, dass junge Menschen auf den dunklen Seitenstraßen der Innenstädte ihren Körper feilboten, um Essen und Drogen bezahlen zu können. Julia
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