Wohin das Herz uns trägt
sie fast so dicht vor der Kleinen stand, um sie berühren zu können, ging sie vor ihr in die Hocke, um auf gleicher Augenhöhe zu sein. Dann fasste sie mit einer Hand hinter sich und tastete nach dem Teller mit dem Hotdog. Als sie ihn fand, zog sie ihn an seinem Plastikrand zu sich und hielt ihn dem Mädchen hin. »Bist du im Wald verloren gegangen, Schätzchen? Das kann einem fürchterlich Angst machen. Die Dunkelheit, die Geräusche. Bist du von deiner Mommy und deinem Daddy getrennt worden? Falls es so ist, kann ich dir helfen. Ich kann dir helfen, dorthin zurückzukommen, wo du hingehörst.«
Die Nasenflügel des Mädchens bebten, aber Julia konnte nicht wissen, ob ihre Worte oder der Hotdog schuld daran waren. Einen Moment lang - vielleicht bei dem Wort zurück oder bei helfen - hatte sie Angst in den Augen aufblitzen sehen.
»Du hast Angst, mir zu vertrauen. Möglicherweise haben deine Eltern dir eingeschärft, dass du nicht mit Fremden reden sollst. Im Normalfall ist das auch ein wirklich guter Rat, aber jetzt steckst du in Schwierigkeiten, Schätzchen. Ich kann dir nämlich nur helfen, wenn du mit mir sprichst. Wie soll ich dich sonst wieder nach Hause bringen? Du kannst mir vertrauen. Du brauchst keine Angst zu haben. Keine Angst«, wiederholte sie.
Langsam begann sich das Mädchen zu bewegen. Nicht einen Moment senkte sie den Blick. Sie starrte Julia direkt ins Gesicht, während sie sich unbeholfen kriechend vorwärtsschlich.
»Keine Angst«, sagte Julia wieder.
Die Kleine atmete schwer und schnell, die Nasenflügel blähten sich. Schweißperlen schimmerten auf ihrer Stirn. Da sie die Windel nicht hatten wechseln können, roch sie streng nach Urin. Das Krankenhaushemd hing schlaff an ihrem winzigen Körper herunter, Fuß- und Fingernägel waren immer noch schmutzig. Sie griff nach dem Hotdog.
Zögernd hielt sie ihn sich unter die Nase, schnüffelte daran und runzelte die Stirn.
»Das ist ein Hotdog«, erklärte Julia. »Wahrscheinlich haben deine Eltern so was auch auf euren Ausflug mitgenommen. Erinnerst du dich vielleicht, wo ihr wart? Weißt du noch den Namen der Stadt? Mystic? Forks? Joyce? Pysht? Was hat dein Daddy gesagt, wo ihr hinwollt? Vielleicht kann ich ihn herholen.«
Auf einmal griff das Mädchen an. Es geschah so schnell, dass Julia nicht reagieren konnte. Sie saß da und redete leise, und im nächsten Moment spürte sie, wie sie nach hinten kippte und mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug. Das Mädchen stürzte sich auf sie, kratzte nach ihrem Gesicht und kreischte unverständliches Zeug.
In Sekundenschnelle war Max zur Stelle und zerrte das Kind von Julia herunter.
Benommen versuchte sie sich aufzusetzen. Erst nahm sie alles nur verschwommen wahr, aber als die Welt langsam wieder scharf wurde, sah sie, dass Max dem Mädchen eine Beruhigungsspritze verpasste.
»Nein!«, schrie Julia und wollte schon aufspringen. Erneut wurde ihr schwindlig, und sie geriet ins Stolpern.
Sofort war Max an ihrer Seite und stützte sie. »Ich hab Sie, keine Sorge.«
Julia riss sich los und fiel auf die Knie. »Das glaub ich ja wohl nicht, dass Sie der Kleinen eine Spritze verabreichen! Verdammt. Jetzt wird sie mir nie vertrauen!«
»Das Kind hätte Sie verletzen können«, erwiderte er mit irritierender Nüchternheit.
»Sie wiegt doch bestimmt nicht mehr als fünfundvierzig Pfund.«
Ihre Wangen und ihr Hinterkopf schmerzten. Sie konnte kaum glauben, wie schnell alles gegangen war. Zittrig atmete sie aus und sah sich um. Das Mädchen lag schlafend auf der Matratze, selbst jetzt eng zusammengerollt, als könnte ihr die ganze Welt jederzeit etwas antun. Verdammt. »Wie lange wird sie schlafen?«
»Bloß ein paar Stunden. Ich glaube, sie hat nach einer Waffe gesucht, als ich reinkam. Wenn sie eine gefunden hätte, wären Sie vielleicht nicht so glimpflich davongekommen.«
Julia verdrehte die Augen. Bestimmt gehörte dieser Max zu den Leuten, die in ihrem Leben noch nie mit Gewalt konfrontiert worden waren. »Ich bin weiß Gott nicht zum ersten Mal von einem Patienten angegriffen worden. Und wahrscheinlich auch nicht zum letzten Mal. Das gehört zur Stellenbeschreibung. Bitte sedieren Sie das Mädchen das nächste Mal nicht, ohne mich vorher zu fragen. Okay?«
»Sicher.«
Sie runzelte die Stirn. Die Bewegung schmerzte. »Die Frage ist: Was habe ich gesagt?«
»Wie meinen Sie das?«
»Sie haben das Mädchen doch auch gesehen. Es ging ihr gut. Ich dachte sogar, dass sie vielleicht ein bisschen was
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