Wohin das Herz uns trägt
womöglich der am stärksten geschädigte Patient, den sie jemals behandelt hatte, und ohne intensive Hilfe ging es im System womöglich genauso unter und wurde vergessen, wie sie es im Wald gewesen war.
Julia beugte sich über den Drucker und holte die Blätter heraus. Obenauf lag die Seite, die sie zuletzt gedruckt hatte. Ein Mädchens starrte sie aus einem Schwarzweißfoto an, verängstigt und gleichzeitig seltsam ungerührt. Die Bildunterschrift lautete:
Genie. Nach zwölf Jahren schrecklichen Missbrauchs und Isolation wurde sie zur Mediensensation. Das moderne Äquivalent eines Wolfskinds, aufgewachsen in einer Vorstadt in Kalifornien. Aus ihrem Albtraum gerettet, brachte man sie für kurze Zeit ans Licht, bis sie, wie schon alle übrigen Wolfskinder vor ihr, von Ärzten und Wissenschaftlern vergessen und ihrem finsteren Schicksal überlassen wurde - dem Leben in einem Heim für geistig Behinderte.
Julia konnte sich nicht vorstellen, jemals ein traumatisiertes Kind für einen Karriereschub zu missbrauchen, aber sie wusste, dass früher oder später solche skrupellosen Menschen bei dem Mädchen auftauchen würden. Wenn die wahre Geschichte halb so schlimm war, wie sie es befürchtete, würde sie Schlagzeilen machen.
»Ich werde nicht zulassen, dass dir jemals wieder jemand wehtut«, schwor Julia dem kleinen Mädchen, das jetzt im Krankenhaus lag und schlief. »Das verspreche ich.«
Kapitel 7
Gegen acht an diesem Abend hörten die Telefone endlich auf zu klingeln. Es hatte Dutzende von Anrufen gegeben, manche hatten mit der Pressekonferenz zu tun, andere wollten die Fakten überprüfen, es kamen Faxe und Anfragen von Reportern, die vor Ort gewesen waren, aber auch von anderen, die nur irgendwie Wind von der Geschichte bekommen hatten. Und natürlich waren bis zur Abendessenszeit auch unablässig die Einheimischen eingetrudelt und hatten um Informationshäppchen über Rain Valleys ungewöhnlichsten Gast gebettelt.
»Die Ruhe vor dem Sturm«, meinte Peanut.
Ellie blickte von den Papieren auf, die sich auf ihrem Schreibtisch häuften, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie sich ihre Freundin eine Zigarette anzündete.
»Ich hab gefragt, und du hast gegrunzt«, sagte Peanut hastig, ehe Ellie ihre Einwände vorbringen konnte.
Aber Ellie hatte gar keine Lust, sich mit ihr zu streiten. »Was ist mit dem Sturm?«
»Es ist so ruhig, weil morgen die Hölle losbrechen wird. Ich sehe mir immer den Gerichtskanal an, ich weiß Bescheid. Heute waren ein paar regionale Sender und Lokalzeitungen vertreten. Aber sobald auch nur eine einzige Schlagzeile vom Fliegenden Wolfsmädchen erscheint, ändert sich das im Nu, und jeder Reporter im ganzen Land ist scharf auf die Geschichte.« Kopfschüttelnd stieß sie den Rauch aus und hustete. »Die arme Kleine. Wie können wir sie beschützen?«
»Genau daran arbeite ich ja.«
»Und was sollen wir tun, wenn jemand kommt und das Mädchen mitnehmen will? Wie können wir solchen Leuten vertrauen?«
Diese Frage trieb auch Ellie um. »Darüber grüble ich schon die ganze Zeit nach, Pea. Ich möchte sie keinesfalls denen aushändigen, die ihr das angetan haben, aber wir haben so verdammt wenig Beweise. Mit Bauchgefühl allein kommt man in unserem Rechtssystem leider nicht besonders weit. Offen gesagt hoffe ich, wir kriegen bald einen Entführungsbericht, auch wenn ich die Erste bin, die zugibt, dass das eine sehr traurige Hoffnung ist. Ich würde wohl einfach gern ein kleines Mädchen in den Schoß der Familie zurückbringen. Wenn es Kidnapping war, dann haben wir vielleicht bald Blutproben und einen Verdächtigen. Falls die Dinge aber komplizierter liegen ...« Sie zuckte die Achseln. »Dann bin ich vermutlich doch auf die Hilfe von den großen Jungs angewiesen.«
»Wenn kein Verbrechen vorliegt, halten die sich fern wie der Teufel vom Weihwasser und überlassen die Knochenarbeit lieber dir«, meinte Peanut. »Und der Staat greift garantiert nur ein, wenn es darum geht, das Mädchen in irgendeine Bewahranstalt zu stecken. Das hat man uns ja schon in Aussicht gestellt.«
Ellie hatte schon die ganze Nacht auf dieser emotionalen Achterbahn zugebracht, und sie war einer Lösung noch keinen Schritt näher. »Ich denke, jetzt kommt alles auf Julia an. Wenn sie etwas aus dem Mädchen herauskriegt, haben wir zumindest einen Ansatzpunkt.«
»Falls das Mädchen überhaupt sprechen kann, meinst du wohl.«
»Das ist Julias Seite des Problems, aber wenn irgendjemand diesem Mädchen helfen
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